Überblickskommentar
Thematisiert wird eine Synthese von Sexualität, Rationalität, magischen Ritualen und moderner Kunst. Nachdem zwei Reaktionen (von Kindern und einem Stadtführer) auf das Kunstwerk beschrieben worden sind, imaginiert das lyrische Ich ein Sexualritual und gewinnt dadurch (auch veranlasst durch die beiden historischen Brände des U-Bahneingangs) eine eigene Sicht auf die Wirksamkeit spiritueller Vorgänge.
DAHLEMER REETHÜTTE
Ein
Buschmann
da schau
zwischen zwei FrauenDer ihren Schwarzglanzbrüsten
Wow! seinen beinharten Stolz
herzeigtKindergelächter lautstark
5Übertönt von Tropenholzartefakt
Frostresistenz Ritualgenital
Von intuitionsindigener Signifikanz
Wegweiser zu seinem Museum ganz nah
Vollmond und Fleisch
in wilden10Fruchtbarkeitsrundtänzen
Heiß
reibt sichs bis oben das DeckschilfErneut rot in Flammen das wär
Vermutlich zu viel
Doch dann
aus gedämpften Augen15Ein Blitz schien mir zwischen die künstlichen
Halbkugelbrüste schien mitten hinein –
Stellenkommentar
Bild: Abgebildet ist die Skulptur ‚Liebespaare‘ vom Künstler Wolf van Roy auf dem Bahnsteig des U-Bahnhofs Dahlem-Dorf und das Eingangsgebäude zum U-Bahnhof.
Titel: Der Titel bezieht sich auf das Eingangsgebäude des U-Bahnhofs Dahlem-Dorf. Das im Stil eines norddeutschen Gutshauses reetgedeckte Fachwerkhaus wird als REETHÜTTE bezeichnet und stellt damit die Verbindung zum indigen inspirierten Kunstwerk auf dem Bahnsteig her.
v.1 Buschmann: Eine heute diskriminierende Sammelbezeichnung für männliche Angehörige einer indignenen Ethnie im südlichen Afrika. Hier wird damit der Mann in der Skulptur ‚Liebespaare‘ benannt.
v.1 da schau: Sowohl Aufforderung an ein schaulustiges Publikum als auch Selbstanrede des lyrischen Ich. Die Aufforderung könnte auch auf die Völkerschauen um 1900 herum bezogen werden.
v.1f: Die dargestellten Figuren sind abstrakt und nur anhand ihrer Geschlechtsmerkmale als Mann zwischen zwei Frauen zu erkennen. Der ebenfalls diskriminierende (s. zu v.1) Neologismus Schwarzglanzbrüsten setzt sich zusammen aus der Bezeichnung Schwarz für eine PoC (person of colour), aus dem in der Werbung verwendeten Begriff ‚Hochglanzbroschüre‘ und der Benennung eines sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmals, den Brüsten.
v.3: Der aus dem Englischen stammende Ausruf der Anerkennung Wow! wird einerseits vom lyrischen Ich ausgestoßen, andererseits drückt er auch den Stolz des Buschmanns auf seine beinharte Erektion aus. ‚bein‘ ist eine alte Bezichnung für ‚Knochen‘. Die öffentliche Zurschaustellung des männlichen Geschlechtsteils (herzeigt, Exhibitionismus) wird im Allgemeinen durch die Darbietung als Kunst legitimiert. Die Reaktion darauf zeigt die zweite Versgruppe.
v.4ff: Die zweite Versgruppe bringt zwei Reaktionen auf das Kunstwerk. Das Lachen der Kinder über die ausgestellten Geschlechtsteile wird Übertönt von den Erläuterungen eines Stadtführers, der mit seinen übersteigerten wissenschaftlichen Begriffen offensichtlich beeindrucken möchte.
v.6f: Der Künstler hat sich in der Darstellung der Figurengruppe von dem afrikanischen Stamm der Dogon anregen lassen. Die Verbindung von Genital und Ritual verweist auf die Weltauffassung der Dogon, deren ‚indigene‘ ‚Intuition‘ eine bedeutungsvolle (signifikante) Realität wahrnimmt.
v.8: Gemeint ist das damals in Dahlem angesiedelte Ethnologische Museum, das ganz nah an der DAHLEMER REETHÜTTE lag. Das Possessivpronomen seinem bezieht sich auf den Buschmann. Die museale Ausstellung beraubt die indigenen ‚Objekte‘ ihres spirituellen Zusammenhangs und macht sie zu Schaustücken (vgl. zu v.1 da schau).
v.9f: Die beiden Verse beziehen sich auf die rituellen nächtlichen Tänze indigener Völker zur Beschwörung von Fruchtbarkeit. Darüber hinaus kann der Vollmond wegen seiner Form auf die weibliche Brust und das Fleisch auf das männliche Genital bezogen werden. Der Geschlechtsverkehr wird im folgenden Vers mit Heiß reibt sichs vollzogen. Die Entflammbarkeit auch der Psyche verweist auf die Wirkmächtigkeit ritueller bzw. spiritueller Vorgänge.
v.11f bis oben … / … in Flammen: Angespielt wird hier auf den zweimaligen Brand des Reetdachs (Deckschilf) des U-Bahnhofs Dahlem-Dorf am 27.12.1980 und am 28.04.2012.
v.12f das wär / Vermutlich zu viel: Der Kommentar des lyrischen Ich ist ironisch: Dass eine Reethütte durch ein magisches Ritual in Brand gesetzt wird, scheint für ein in der rationalen Moderne geschriebenes Gedicht Vermutlich zu viel. Lieber verstummt das lyrische Ich zunächst vielsagend.
v.14ff: Nachdem sich das lyrische Ich in der dritten Versgruppe von der Wirkung magischer Rituale ironisch distanziert hat (s. zu v.12f), hebt v.14 mit einer Gegenführung an (Doch dann), in der eine Erkenntnis ‚aufzublitzt‘, die die Fruchtbarkeit ins Spirituelle wandelt. Die gedämpften Augen suggerieren einen durch den Branddampf ‚getrübten Blick‘, aus dem dann trotzdem ein befruchtendender Blitz tritt. Das schien mir (v.15) lässt den Vorgang noch in der Schwebe, das wiederholende schien (v.16) bestätigt aber durch die Verwandtschaft mit ‚Schein‘ eindeutig die Lichterscheinung.
Form
Das Gedicht ist spiegelsymmetrisch um die Mittelachse gebaut (3/5/5/3). Es wiederholen sich die letzten betonten Vokale der ersten Versgruppe (au/ü/ei) in der letzten Versgruppe. Die beiden mittleren Versgruppe haben aber zwei unterschiedliche Vokalschemata: während in der zweiten (rationalen) Versgruppe fünfmal das -a- am Ende der Verse klingt, wird die dritte (rituelle) Versgruppe durch Vokalwiederholung gebunden: (i/ä/i/ä/ie).