Überblickskommentar
Grundgedanke: Die säkularisierte Moderne macht Die Augen fest zu vor Alter, Leid und Tod – und verschiebt die Spiritualität in die Ökologie. Dem lyrischen Ich dagegen wird das Durchscheinen der Transzendenz bewusst.
Das lyrische ich beobachtet am Adam-Kuckhoff-Platz eine Asiatin und deren Kleinkind und sinniert dabei über den Verfall des Abendlandes (VG 1). Die anliegenden Geschäfte sind ihm Zeichen für die Leugnung der Vergänglichkeit, sodass es sich mit Siebenmeilengehhilfen fortwünscht (VG 2). Das Rauschen des Brunnens (Weltwahrheit) wird in die Münder des Glascontainers verschoben (VG 3). Der Abendhimmel mit Gold und Blau:scheint ein Versprechen der noch wahrnehmbaren Transzendenz zu sein (VG 4).
ADAM-KUCKHOFF-PLATZ
Diese asiatische Mammi
schlau schlau setzt sie ihr SchlitzaugenkerlchenRittlings sich auf die Schultern damit Klein China
Um Gotteswillen
dass es zu früh nicht checktDie Osterglöcklein hier unten und Pfingsthyazinthen –
5Gemeine Heulzwiebelgewächse!
Was Feinbäckerei
Czerr
klar doch längst weiß und darumMit
Beauty 4 Times Anti-Aging
Auch diesmal wieder ihr Kiezwerbepakt
Durch
Glutamatüberdosen
den Rotdorn sein grelles
10Puffmutterrouge ausschwitzen machen
Und Birkenaltsingels ein Puderzucker-Make up
In Geilgrün verpassen das ihre massigen
Mistelgeschwulste zudeckt – ach wenn
Der Orthopädie-Schaub gäb er mir
Siebenmeilengehhilfen bis Ozeanien!
15Doch so
zu den Putten hier
will ich mich hinsetzenDie haben mit ihren Plantschhöschen nun auch
Die neckischen Kurzflatterli abgelegt
Ihr
Springbrunnenwasser
da sein GerauscheDas
Ohr nur betäubt
das kippten sie weg20Einzig der einen Weltwahrheit zu lauschen
Aus den drei Mündern des Glascontainers
Die Augen fest zu
bleib ich hier – und trotzdem noch immerLau durch die Lider sowas wie halbgoldner Schein
Aus diesem ewig blassblauen Himmel
Stellenkommentar
Titel: Adam Kuckhoff (*1887; †1943) war ein deutscher Schriftsteller und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Wenn man eine Parallelität zwischen Adam Kuckhoff und dem lyrischen Ich herstellen wollte, könnte man das lyrische Ich als Widerstandskämpfer gegen Transzendenzferne der Gegenwart sehen.
v.1f: Die ersten beiden Verse werden von einem xenophoben, rassistischen Blick dominiert: Auf der realen Ebene setzt sich eine Mutter mit asiatischem Aussehen ihr Kleinkind auf die Schultern. Das Motiv der `Schlitzaugen‘ wird mit einem moralisch fragwürdigen Charakterzug verbunden (schlau schlau wie ’schlitzohrig‘). Der Begriff Klein China steht abwertend für eine städische, überwiegend von Chinesen bewohnte Siedlung. Das lyrische Ich scheint sich vor Überfremdung und dem Untergang des christlichen Abendlandes zu fürchten (s. zu v.3ff).
v.3ff: Mit Um Gotteswillen legt das lyrische Ich ironischerweise der Asiatin eine Anrufung Gottes in den Mund. Aus ihrer Sicht soll das Kind zu früh nicht mit Auferstehung (Osterglöcklein) und dem Pfingstwunder (-hyazinthen) bekannt werden. Die Osterglocken und Hyazinthen blühen im Frühling auf der an den Platzbrunnen angrenzenden Wiese. Beides sind (Heul)Zwiebelgewächse; das ‚Heulen‘ könnte mit den Tränen beim Zwiebelschneiden erklärt werden, dürfte aber auch auf die christliche Tugend des Mitleids verweisen. Insgesamt unterstellt das lyrische Ich also der asiatischen Mama ein Ablehung des Christentums. Andererseits könnte der Ausruf Um Gotteswillen auch das Entsetzen des lyrischen Ich angesichts eines herrschenden Rassismus (v.1f) ausdrücken.
v.6ff: Vom Adam-Kuckhoff-Platz nach Westen blickend sind folgende Realien, die das Gedicht erwähnt, zu sehen: Die Feinbäckerei Czerr / das daneben liegende ehemalige Schönheitsstudio Beauty 4 Times / Rotdorn (Bäume in der Homburgerstraße) / drei Glascontainer / eine Birke mit Mistelparasiten / das Orthopädiegeschäft Schaub / das benachbarte asiatische Restaurant. Diese Realien weiten den Blick des lyrischen Ich auf die moderne Verdrängung von Leid, Gebrechen, Alter und Tod.
v.6: Die Feinbäckerei Czerr steht für die Überzuckerung (Puderzucker v.11), die vom Leiden nichts wissen will, Was (sie) … klar doch längst weiß.
v.7: Das Alter im wird Schönheitsstudio mit Anti-Aging Produkten bekämpft, die die Kiezgeschäfte in gemeinsamen Werbeprospekten (Kiezwerbepakt) anpreisen.
v.9: In asiatischen Restaurants wird gelegentlich Glutamat als Geschmacksverstärker eingesetzt. Eine Überdosis kann neben Nervenschädigungen und Übergewicht zu Übelkeit und Kopfschmerzen führen.
v.9ff: Das grelle / Puffmutterrouge ( des Rotdorns) und das Puderzucker-Make up verdrängt mit Schminke das Alter der Birkenstock-altsingels.
v.14 Siebenmeilengehhilfen bis Ozeanien!: Das Märchenmotiv der ‚Siebenmeilenstiefel‘ wird mit dem Ersatz der ‚Stiefel‘ durch die altersgemäßen gehhilfen konterkariert: damit bewegt man sich weder schnell noch kommt man weit − jedenfalls nicht bis ins idyllische Ozeanien!, in dem die legendären, leichtbekleideten Insulaner alterslos das Leben genießen.
v.15ff: Die Putten sind Figuren am ‚Erikabrunnen‘ auf dem Adam-Kuckhoff-Platz. Der 1943 zerstörte Brunnen wurde 1981 von dem Bildhauer Heinz Spilker rekonstruiert und die Figuren wurden neugestaltet. (Der Name ‚Erika‘ stammt von der Tochter des damaligen Bürgermeisters, die dem ursprünglichen Künstler Emil Cauer d.J. Modell gestanden hat.) Da für das lyrische Ich das ozeanische Paradies nicht erreichbar ist (vgl. zu v.14), begnügt es sich mit einem Platz bei den unbekleideten Kleinkinderfiguren am Brunnen.
v.18f: Hier wird das Motiv der Ablehnung des Christentums wiederaufgenommen (vg. v.3ff). Zwar ruft das Springbrunnenwasser die Assoziation zum Wasser des Lebens hervor, das Christus allen Leidenden spendet (Apo. 21,6 und Matth. 11,28), aber die Brunnenputten haben das Wasser ‚weggekippt‘.
v.19ff: Das Christentums mit seiner Trinitätsvorstellung (drei Mündern) als Weltwahrheit, dessen Gerausche / Das Ohr nur betäubt hat (wie die säkularisierte Moderne meint), wird abgelöst durch ein Heilsversprechen, das in der ‚frohen Botschaft‘ des Recyclens in den drei Öffnungen des Glascontainer besteht. Die ironische Pointe liegt in der Gleichsetzung von Recycling und Auferstehung.
v.22ff: Das lyrische Ich schließt die Augen fest zu vor Alter, Leid und Tod, es beschließt, im hier, in der Immanenz zu bleiben. Dennoch dringen Reste der Transzendenz (sowas wie halbgoldener Schein, ewig blassblauen Himmel) in sein Bewusstsein. Man könnte auch die Haltung des lyrischen Ich so verstehen, dass es sich weigert, die Säkularisierung anzuerkennen, und sich entschließt, im hier (durch die Lider) am Schein der Ewigkeit festzuhalten. Die tradionelle Trennung von Transzendenz und Immanenz wird in einem ironischen Spiel (Lau, sowas wie, halbgoldner, ewig blassbauen) aufgehoben. Die Transzendenz zeigt sich in der Immanenz.
Form
Das Gedicht besteht aus vier Versgruppen (5/8/8/3), die durch Vorrücken des Anfangverses gekennzeichnet werden. Endreime nehmen im Verlauf des Gedichtes zu: Nach den nur angedeuteten Reimen ma- (v.10-12) und -en (v.13-15) reimen v. 16, 18, 20 (au), v.17, 19 (eg) und v.22, 24 (im). ‚Schräg‘ reimt v.21 auf v.23 (containers / Schein) und betont damit den Gegensatz von dem modernen Heilsversprechen und dem traditionellem religiösen Versprechen (vgl. zu v.19ff und zu v.22ff).