Abtastung

Überblickskommentar
 
Der moderne, vom Paradigma der Information bestimmte Mensch prüft mit seinem stör-anfälligem Hirn das Leben (VG 1 + v.6). Mit dem Bild der beiden Blumen wird er an seine Sterblichkeit (Paradiesschlange) und seine Herkunft (aus dem Licht) erinnert (VG 2 + v.12). Das Ergebnis der ABTASTUNG ist eine Begegnung mit der Transzendenz (VG 3 + 18f). Die Abtastung, der Erkenntnisdrang wird mit Bildern aus der christlichen Tradition und Begriffen aus der Informatik belegt.
 
 

ABTASTUNG

 
Bis in
den
Staubschweif
stör-

Anfällig muss er sich abmühn
Der
Hardware-Wurm

Mit Prüfprogrammen für
unscharf

5Gerastertes Sommerrot
 
Tropfen − zahllos zu schauen −

 
Kaum unterscheidbare
Natterköpfe

Die möglichen
Immortellen

So
lichtgetrieben

10
Vollzieht es sich überall

Mit
Trugfrucht
mit
Blütenbildung

 
Dunst − aufsteigend vom Meer −

 
Das
Tränenbein
aber
Mondsilberrein
scheints
15Hinter dem Umkehrpunkt
Und in der
Begegnung der Augen

Nun
mohnkorngroß

 
Hoffnung ist es − ist Grauen

Eins sei der Grund − sei leer

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel benennt einen im Gedicht sich vollziehenden Untersuchungsvorgang als konkretes Abtasten der menschlichen Existenz.
 
v.1ff: Die erste Versgruppe nutzt mit Hardware, Prüfprogrammen, stör-Anfällig und Gerastertes ein Vokabular aus dem Bereich der Computertechnologie bzw. der Informatik. Damit kombiniert werden Begriffe aus der Natur (Staubschweif, -Wurm, Sommerrot) und der menschlichen Lebenswelt (sich abmühn). Beide Bereiche fügt der Autor zu einem Blick auf den modernen Menschen (Hardware-Wurm) zusammen, der in dem neuen Paradigma ‚Information‘ sein Leben fristet (Sommerrot).
 
v.1 Staubschweif: Jeder Komet zeigt einen diffusen Schweif, der auch Staubschweif genannt wird. Die kleinen Staubteilchen, werden durch den Sonnenwind immer in Sonnen-abgewandte Richtung gedrückt (lichtgetrieben (v.9)). Der Begriff Staub ist verknüpft mit der biblischen Verfluchung Adams ‚Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück ‚, wohingegen der ‚Komet‘ auf die Herkunft des Menschen aus der Transzendenz verweist. In der Bildtradition wird der Stern von Bethelehem als Komet dargestellt.
 
v.1f stör- / Anfällig muß er sich abmühn: Im Hintergrund könnte eine Anspielung auf Mephistos Menschenbild im ‚Faust‘ zu hören sein: ‚Es irrt der Mensch, solang er strebt.‘ und auf Chor der Engel am Schluss des ‚Faust‘: ‚Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.‘
 
v.3 Hardware-Wurm: Einerseits kann man den Hardware-Wurm als Symbol für den Menschen des Informationszeitalters verstehen, andererseits könnte der Wurm als der Gegensatz zur Materie, als Geist (Hegel) interpretiert werden.
 
v.4f unscharf / Gerastertes Sommerrot: unscharf gerasterte Darstellung des Lebens, die durch Programme auf ihre Übereinstimmung mit der Realität geprüft wird.
 
v.6: Der Vers knüpft einerseits mit Tropfen an die Vorstellung des Gerasterten (v.5) und mit zahllos an unscharf (v.4) an und vermittelt so ein unvollständiges Bild der Unendlichkeit; andererseits ließe sich der Vers auch als eine ‚Schau‘ des ganzen, unendlichen ‚zahlosen‘ Lebens lesen.
 
v.7 Natterköpfe: Die Natternköpfe, auch als Natterköpfe bezeichnet, sind eine Pflanzengattung innerhalb der Familie der Raublattgewächse. Der Gattungsname leitet sich von den auffallenden Griffeln ab, die am Ende wie Schlangenzungen gespalten sind. Angespielt wird auch auf die Paradiesschlange, durch die die Menschen ihre ursprüngliche Unsterblichkeit verlieren.
 
v.8 Immortellen: Die Pflanzen der Gattung Strohblumen werden auch Immortellen (lat. für ‚die Unsterblichen‘) genannt, weil ihre Blüten nicht welken. Im Zusammenhang mit den Natterköpfen weisen sie auf die ursprüngliche Unsterblichkeit (lichtgetrieben) hin, an der der Mensch ‚möglicherweise‘ noch Teil hat.
 
v.9 lichtgetrieben: Die Pflanzen in ihrem natürlichen Dasein sind auf das Licht angewiesen, aber das Licht betont auch die Herkunft aus der Transzendenz.
 
v.10: Pointiert gesagt, könnte man das überall als ein Über-All, als die Transzendenz, die sich permanent Vollzieht, verstehen.
 
v.11 Trugfrucht: Der Neologismus Trugfrucht ruft den Paradiesapfel mit dem Betrug der Schlange am Menschen auf, der zur Sterblichkeit führt.
 
v.11 Blütenbildung: Im Gegensatz zur Trugfrucht ist Blütenbildung eine lebendige Kraft der Natur, mit der sie die Möglichkeit des Fortlebens zeigt und damit an die Unsterblichkeit erinnert.
 
v.12: Wiederaufgenommen wird das Bild des Wassers mit dem Meer und der Idee der Unendlichkeit. Während in v.6 Tropfen eine fallende Bewegung symbolisieren (Herkunft aus der Transzendenz), zeigt der Dunst die Bewegung als aufsteigend (Rückkehr in die Transzendenz).
 
v.13 Tränenbein: Das Tränenbein ist ein paariges, dünnes Knochenplättchen, das einen Teil der Augenhöhle und der seitlichen Nasenhöhlenwand bildet. Auf der übertragenen Ebene wird mit Tränen das Bild des Wassers und der Unendlichkeit wieder aufgenommen, mit bein, der älteren Bezeichnung für ‚Knochen‘, ist eine Verbindung zum Bereich des Todes hergestellt.
 
v.14f Mondsilberrein … / … Umkehrpunkt: Das Attribut Mondsilberrein versetzt das Symbol Tränenbein an den nächtlichen Himmel Hinter einen Umkehrpunkt. Der Umkehrpunkt (Metanoia) wird im religösen Sinne als ein Bewusstwerden des Todes und eine Änderung der Blickrichtung gedeutet.
 
v.16 Begegnung der Augen: Im Bewusstwerden der Sterblichkeit ‚begegnet‘ dem Menschen die Transzendenz in der religiösen Tradition als Auge Gottes.
 
v.17 mohnkorngroß: Die Begegnung der Augen hebt das Vergessen (mohn) des Todes auf und gibt ihm die Erinnerung an seine Herkunft zurück (Gedächtnis). Dieses Ereignis wird vom lyrischen Ich als groß und fruchtbringend (korn) empfunden.
 
v.18: Syntaktisch werden mit Hoffnung ist und ist Grauen Transzendenz (ewiges Leben) und Tod kreuzfömig (Chiasmus) verknüpft.
 
v.19: Die Bestandsaufnahme ist (v.18) im Indikativ (Realität) wird zum Wunsch sei (Optativ): Philosophisch ist Eins sei der Grund (‚hen kai pan‘) die Alleinheit alles Seienden, mystisch wird dieser Grund auch als das Nichts, als leer erfahren.