Überblickskommentar:
Grundgedanke: Die ersten drei Versgruppen zeigen mit dem Sezieren eines Körpers eine wissenschaftliche Haltung, die von einer Seele nicht weiß. In der letzten Versgruppe wird die Möglichkeit gezeigt, den Körper zu verlassen und mit der Seele in die Transzendenz zurückzukehren.
TIERANATOMISCHES AMPHITHEATER
Dieser
Kadaver
Wenn
er auf seinem SeziertischHochfährt
in die ArenaVor
tausend Adeptenaugen
5
Und
dieser ProfessorWenn er mir
aus dem Mittelhirn
Schneidet er sich den
puppenrunden
Zapfen und hoch im Triumph
Glandula pinealis!
Die Zirbel!
10
Pinealozyten und Gliazellen!
Dieses Licht
Wenn es
hereinfällt
Von einer Sonne aus Brennglas
Durch eine Flachkuppel aus Holz
15Auf
eine verdorrte Ähre
Und deine Augen
Wenn du sie schließt mein Herz
Und fühlst
wieder die beiden FlügelUnseres Pfauenauges ihr Zittern
20Und seinen kleinen Tod
Stellenkommentar:
Bild: Abgebildet sind die Kuppel des Tieranatomischen Theaters und der Seziertisch mit einem Schafskadaver.
Titel: Das ‚Tieranatomisches Theater‘ der Humboldt-Universität zu Berlin ist ein denkmalgeschütztes Gebäude auf dem Gelände der Charité. Es ist das älteste noch erhaltene akademische Lehrgebäude Berlins. Das frühklassizistische Gebäude wurde 1789/90 von Carl Gotthard Langhans in Anlehnung an Palladios Rotonda erbaut. Der Zusatz Amphi zu theater ist durch das aufsteigende Halbrund des Hörsaals begründet.
v.1 Dieser: Das Demonstrativpronomen dient als strukturierendes Element, es wird jeweils zu Beginn der ersten drei Versgruppen eingesetzt.
v.1 Kadaver: Der Begriff Kadaver bedeutet wörtlich übersetzt ‚gefallener Körper‘, vom lat. cadere fallen, stürzen. In der Zoologie bezeichnet Kadaver tote Tierkörper und ist ein Synonym für Aas.
v.1ff: Das Demonstrativpronomen Dieser hebt hier ein Einzelnes aus einer Menge hervor, es scheint zunächst den auf der Abbildung sichtbaren Tierkörper zu bezeichnen, gemäß den folgende Versen ist aber der real zu sezierenden Tierkörper auf dem Tisch der Arena, dem Hörsaal gemeint. Das Possessivpronomen seinem ordnet dem Kadaver den Seziertisch zu und signalisiert damit, dass das tote Tier als seelenloses zu experimentellen Zwecken freigegeben ist. Hier fühlt man sich an das Diktum des Wissenschaftlers Rudolph Virchow erinnert: ‚Ich habe Tausende von Leichen seziert, aber keine Seele darin gefunden‘. Dies entspricht der Haltung der Wissenschaft zur Religion/Metaphysik, wie sie die ersten drei Versgruppen dominiert.
v.2 Wenn: Die Konjunktion steht jeweils am Beginn des zweiten Verses jeder Versgruppe. Sie kennzeichnet die Zeitlichkeit des Irdischen.
v.3 Hochfährt: Im ‚Tieranatomischen Institut‘ gibt es ein Kellergeschoss, in dem die Tierkörper kühl aufbewahrt werden, bevor sie zum Sezieren auf einem Tisch in die Arena nach oben gefahren werden. Das Hochfahren des Kadavers steht im pointierten Gegensatz zur traditionellen ‚Auffahrt der Seele‘ nach dem Tod.
v.4 tausend Adeptenaugen: Ein ‚Adept‘ bezeichnet heute einen Schüler, ehemals aber jemanden, der in eine Geheimlehre eingeweiht worden ist. Das Attribut ‚tausend‘ ironisiert das Geheime der Lehre.
v.5: Das Und verbindet zusammen mit dem dieser den Tierkadaver und den Professor, der ihn seziert. Das Demonstrativpronomen verweist auf einen bestimmten Professor, hier könnte Virchow gemeint sein (vgl. zu v.1ff).
v.6ff: Das Herausschneiden der Zirbeldrüse aus dem Tier scheint für Professor Virchow ein Triumph der Wissenschaft über die Metaphysik/Religion (vgl. zu v.1ff) zu sein. Dies wird durch die Betonung des Momentes (Wenn) hervorgehoben. Der ethische Dativ (mir) ironisiert die innere Anteilnahme des lyrischen Ich und entspricht dem Reflexivpronomen (sich), das den Professor als Handelnden betont.
v.6 Mittelhirn: Das Mittelhirn ist vor allem für die Koordination der Motorik zuständig und steuert die meisten Augenmuskeln.
v.7f puppenrunden / Zapfen: Die Zirbeldrüse hat die Form eines puppenrunden / Zapfens, die hier bereits auf den Schmetterling (Leib oder Puppe) als Symbol der Seele verweist (vgl. zu v.18f).
v.9: Die Zirbeldrüse (lat. Glandula pinealis nach der Form der Zapfen der Zirbelkiefer) ist eine kleine, häufig kegelförmige Drüse am Mittelhirn. In Anlehnung an die Tradition der Antike bezeichnete der französische Philosoph René Descartes die Zirbeldrüse als Sitz der Seele.
v.10 Pinealozyten und Gliazellen: Pinealozyten sind Zellen nur in der Zirbeldrüse, in denen das für die biologische Uhr verantwortliche Melatonin produziert wird. Gliazellen sind Stützzellen für das Nervengewebe. Die beiden kursiven Zeilen können als Ausrufe des Professors gelesen werden. Die betonte Nennung der Fachbegriffe (v.9f) illustriert den vermeintlichen Triumph der Wissenschaft und scheint zu sagen: Seht her, alles nur reine Materie, wir Wissenschaftler haben alles im Be-Griff.
v.11 Dieses Licht: Das Demonstrativpronomen knüpft an die Demonstrativpronomen der ersten beiden Versgruppen an. Das Licht lässt sich einerseits als Licht der Aufklärung verstehen, das einem numinosen Licht entgegengesetzt ist, oder andererseits als ein transzendentes Licht, das die pure Rationalität überwindet. Wenn man davon ausgeht, dass in der vierten Versgruppe eine Geliebte/r angeredet wird (vgl. zu v.16f), dann erinnert die prominente Stellung dieses Ausrufs an Wagners Liebesdialog zwischen Tristan und Isolde, in dem beide das Verlöschen des Lichtes herbeisehnen (‚Oh, dieses Licht‘), damit die Nacht der Liebe herabsinken kann.
v.12ff: Die nächsten drei Verse beschreiben das im oberen Bild Wiedergegebene: Das Sonnenlicht wird durch die Glaskuppel wie durch ein Brennglas auf den Tisch gebündelt und lässt dort nur eine verdorrte Ähre erkennen. Die Sonne aus Brennglas, die Flachkuppel und die verdorrte Ähre können als Symbole für die transzendenzlose Gegenwart gelesen werden.
v.12 hereinfällt: Gegenbewegung zu Hochfährt (s. zu v.3).
v.15 verdorrte Ähre: Dass das Licht jetzt auf eine verdorrte Ähre fällt (und nicht mehr auf den Kadaver (v.1)), verweist auf die symbolträchtige Dimension von Fruchtbarkeit/Leben und Unfruchtbarkeit/Tod In den antiken eleusinischen Mysterien zu Ehren der Göttin Demeter wurde z.B. von einem Priester eine ‚geschnittene Ähre‘ als heiliger Gegenstand präsentiert. Die Eingeweihten erkannten die Ähre als Inbild des aus dem ‚Erdenschoß neu erstehenden Lebens; sie deutet auf Verwandlung, auf einen Durchgang durch den Tod. Auch im Christentum hat diem Ähre häufig eine sybolische Bedeutung, so z.B. im AT bei Josefs Interpretation des Pharao-Traums von den Ähren oder im NT dem Gleichnis vom Sämann.
v.16f: Angeredet wird ein(e) Geliebte(r) als mein Herz (vgl. auch zu v.11). Das ‚Schließen der Augen‘ kann im übertragenen Sinne als kleine(r) Tod, als Tod des Körpers verstanden werden. Es besteht auch die Möglichkeit, die Verse als Anrede des lyrischen Ich an sein Herz zu interpretieren, wobei das ‚Schließen der Augen‘ als ein Ausblenden der Realität verstanden werden kann.
v.18ff: Der Schmetterling als Symbol der Seele wird wieder aufgenommen (vgl. zu 7f). Die Spezifizierung als Pfauenauge stellt die Beziehung zum Beginn der Versgruppe (deine Augen) her und verbindet die Liebenden (Unseres). Das ‚Wiederfühlen‘ der beiden Flügel ist als Erinnerung an die Herkunft der Seele aus der Transzendenz zu lesen. Ihr Zittern bereitet den Aufstieg dorthin vor.
Liest man die Verse als Dialog des lyrischen Ich mit sich selbst, kann man die beiden Flügel als den materiellen und als den geistigen Anteil des Ichs interpretieren. Das Pfauenauge (die Seele) mit seinen beiden Formen als Raupe und als Schmetterling repräsentiert beide Anteile, das Zittern, der kleine Tod, symbolisiert dann das Verlassen der Immanenz. Die Doppelnatur der Seele ist bereits in Platons Dialog Phaidros (Kapitel XXV) zu finden: Die Seele wird mit einem Pferdegespann verglichen, vor den Wagenlenker sind zwei ungleiche, geflügelte Pferde gespannt, das eine strebt in den Himmel, das andere stürzt zur Erde hinab.
Form:
Das Gedicht wird durch die rhetorische Figur der Anapher strukturiert. Die Versgruppen 1 und 3 beginnen mit dem Demonstrativpronomen Dieser/Dieses, in Vergruppe 2 ist das zweite Wort dieser. Versgruppen 2 und 4 beginnen jeweils mit Und, die Versgruppe 4 wiederholt das Und zu Beginn des 18. und 20. Verses nochmal. Der zweite Vers jeder Gruppe beginnt mit dem Wort Wenn. Diese ausführliche Nutzung der Anapher gibt dem Gedicht einen strengen, gliedernden Anschein, der dem wissenschaftlichen Blick der ersten Versgruppen entspricht. Die letzte Versgruppe verwandelt konkrete Dinge (Augen, Herz, Flügel, Schmetterling) in Symbole und erweckt so eher einen spirituellen Eindruck.