Überblickskommentar:
Das Gedicht belebet eine Figurengruppe am Berliner Märchenbrunnen in Friedrichshain. Es sind Figuren aus dem Grimmschen Märchen ‚Brüderchen und Schwesterchen‘.
Grundgedanke: Philosophisch/poetologisch betrachtet ist das Reh, das lyrische Ich, hier ein Repräsentant der Transzendenz, der König vertritt den Dichter, das Schwesterchen scheint die Muse zu sein und das prächtige Schloss das Gedicht. Am Schluss wird das Reh von der Wunde seiner Sprachlosigkeit erlöst.
REH AM MÄRCHENBRUNNEN
Ich habe dem Wolf
nicht den Bauch aufgeschlitzt
Ich hab
die Geschwister nicht übergesetzt
Ich war
das RehDessen Anblick
den König auf seiner Jagd5Zur Schwester geführt hat
Sie sind
ein glückliches Paar
Er errichtet ihr jedes Jahr
Zum Hochzeitstage ein prächtiges Schloss
Und mir reicht er mit seinen schönen Händen die extragroße
10Ration zartes Grün
Das tut mir gut
Weil dann immer die sprachlose
Wunde zu bluten beginnt
Stellenkommentar:
Bild: Im Gedichtband ist die Figur ‚Brüderchen und Schwesterchen‘ aus dem gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm abgebildet. Hinter dem Schwesterchen ist das als Reh verzauberte Brüderchen zu sehen, wie es mit ‚zartem Grün‘ gefüttert wird. Daneben eine Fontäne und die Arkaden des Märchenbrunnens im Berlin-Friedrichshain.
Titel: Der Titel rückt das REH als symbolische Figur ins Zentrum des Gedichts. Der BRUNNEN kann als Quelle der Inspiration und als Verbindung zur Transzendenz gesehen werden. Das Reh, das hier als lyrisches Ich spricht, kann als Repräsentant der Transzendenz gesehen werden.
v.1f: Die ersten beiden Verse spielen auf zwei Grimmsche Märchen an (Rotkäppchen, Hänsel und Gretel), zu denen jeweils Figuren am Märchenbrunnen zu sehen sind. Das lyrische Ich hält beim Anblick dieser Figuren fest, welche Handlungen aus diesen Märchen es (poetologisch/philosophisch interpretiert) nicht getan hat: Damit lehnt das lyrische Ich die konkrete Handlungsebene ab, und erinnert an das Verschwinden der Transzendenz (Ich war v.3). Möchte man aber die einzelnen Handlungen genauer betrachten, könnte man das Aufschlitzen des Wolfsbauchs als Befreiung der Transzendenz und das ‚Übersetzen‘ als Übergang verstehen.
v.1: Anspielung auf das Märchen ‚Rotkäppchen‘. Der Jäger des Märchens schlitzt dem Wolf den Bauch auf um Rotkäppchen und deren Großmutter daraus zu befreien.
v.2: Anspielung auf die zweite Fassung des Märchens ‚Hänsel und Gretel‘, in der eine weiße Ente die Geschwister über ein großes Wasser nach Hause bringt.
v.3: Die folgenden acht Verse beziehen sich nur noch auf das Märchen ‚Brüderchen und Schwesterchen‘. Das lyrische Ich identifiziert sich mit dem Reh des Märchens und spricht im Modus des erzählenden Präteritums: Ich war (vgl. auch v.1f).
v.4f: Im Märchen entdeckt der König während einer Jagd ein Reh, von dem er zur Schwester geführt wird. Auf einer poetologischen Ebene kann der König als Symbol für den Dichter, das Reh als Repräsentant der Transzendenz, die Schwester als Muse verstanden werden.
v.6: Der Zeitenwechsel vom erzählenden Präteritum ins Präsens repräsentiert im Gedicht den ‚glücklichen‘ Märchenschluss. Das Grimmsche Märchen dagegen schließt erst mit einem Sieg über das Böse. Dessen Schluss nutzt das Gedicht nicht.
v.6ff: Das glückliche Paar Dichter und Muse bringen nun nicht wie im Märchen ein Kind zur Welt, nein, es muss jedes Jahr ein prächtiges Schloss sein, ein Gedicht. Dazu reicht der Dichter mit seinen schönen poetologischen Händen die Worte, die extragroße / Ration zartes Grün, damit die Transzendenz zur Sprache kommt.
v.11ff: Die letzten drei Verse beziehen sich nicht mehr auf das Märchen, es redet das Reh als Repräsentant der Transzendenz. Die durch das Weil eingeleitete Begründung (als ob das Bluten einer Wunde gut tut) steht im Widerspruch zum allgemeinen Empfinden. Erklären lässt sich dieser Widerspruch durch den Opfer- oder Erlösungscharakter des Blutes. Zu denken ist dabei an Christus als geopfertes Lamm und in seiner Nachfolge an die Wunde eines Stigmatisierten, die zu bluten beginnt. Erlöst wird das Reh von der Wunde seiner Sprachlosigkeit.
Form: Reimschema: a/a x/b/b b/b/c/c/d c/d/x. Die beiden ungereimten Verse x (Waisen) sind das Reh und die Wunde!