Georg-Kolbe-Kontakthof

Überblickskommentar
 
Grundgedanke ist die poetologische Frage, was das Wesentliche für den Künstler ist: Form, Tradition oder Inspiration?
Bühne für das Narrativ ist der Hof des Georg Kolbe Museums, in dem drei Skulpturen sexuell/erotisch imaginiert werden. Das dichterische Ich sucht dort als Freier auf dem KONTAKTHOF der Lyrik nach Befriedigung seiner poetischen Bedürfnisse: Zunächst wirft es eine Blick auf die angebotenen Wohlproportionierten Formen der ersten Skulptur, die sich aber als beengende stahlharte Rüstung entpuppen könnten (VG 1). Danach betrachtet es die zweite Figur, die die Tradition repräsentieren könnte, die Sterne der Lyrik, deren überwältigender Einfluss es aber zur erdrücken droht (VG 2). Zuletzt sucht es Hilfe bei der Tänzerin, der Muse, die Inspiration und ‚lichte‘ Transzendenz verheißt (VG 3). Es bittet um den Musenkuss mit dem Mund Luthers, dem sächsischen Schöpfer des Hochdeutschen (VG 4). – Ein Seitenthema bildet der Faschismus und Georg Kolbes schwankende Haltung zur Zeit des Nationalsozialismus.
 
 

GEORG-KOLBE-KONTAKTHOF

 
Der rechte
vielleicht?
Wohlproportioniert

Mit echt goldnem Schritt! Doch hat er die Arme
Erst einmal rechtwinklig
ausgebreitet
dann wird

Ein Stahlpaket dich erwarten –
 
5
Oder der dort
die Hand hebt?
Die Strahlen

Des ganzen Tierkreises in sich leitend
Ganz Hingabe?
Gespreizt unter dir
wird er sich als Qualle
Aus Sterntemperaturen erweisen –
 
Zuletzt wär da noch
die Kleine am Brunnen
10Tänzerin eigentlich (sagt sie) stellt sich
Pirouettierend auf eine Fußspitze und
Neigt ihre Schläfe ins Licht –

 
Lisalein sag ich
(denn wie sie so sprach
Bezauberte mich ein Charme aus Sachsen)
15Küss mich mit Luthers Mund!
 
 
Stellenkommentar
 
Bild: Zwei der im Gedicht genannten Personen/Skulpturen sind abgebildet: Als erste die Figur des Schreitenden (?) (VG 1) und dann die Figur der Tänzerin (VG 3+4).
 
Titel: Der Ort des Gedichtes ist der Hof des ‚Georg Kolbe Museums‘ in Berlin-Westend. Georg Kolbe (1877 – 1947) war ein Bildhauer, der die menschliche Gestalt ins Zentrum seines Schaffens stellte. Der Begriff ‚Kontakthof‘ bezeichnet einen geschlossenen Bereich, in dem Prostituierte ihren Körper anbieten. Die Verbindung von Bildhauer und Kontakthof rücken Georg Kolbe in ein Zwielicht, das auf seine schwankende Haltung im Nationalsozialismus hinweisen könnte. Die Schreibweise ohne Bindestriche in der offiziellen Bezeichnung des Museums wird im Titel durch die im Deutschen (gem Duden) vorgeschriebene Form mit Bindestrichen ersetzt.
 
v.1: Das lyrische Ich fragt sich, ob eine der beiden männlichen Figuren im Hof des Georg-Kolbe-Museums die ‚richtige‘ (Der rechte) für seine Kunst sei?
 
v.1f: Die Figur wird als Wohlproporioniert und als schreitend beschrieben. Die Formulierung Mit echt goldenem Schritt spielt nicht nur auf das männlichen Geschlecht (den Schritt) an, sondern man hört auch den goldenen ‚Schnitt‘ und sieht – auch in Verbindung mit den folgenden Versen – die Figur des vitruvianischen Menschen mit. Dort entspricht das Verhältnis der Seitenlänge des Quadrates zum Radius des Kreises in Leonardos Bild dem Goldenen Schnitt, weshalb oft gesagt wird, das Bild sei die „Darstellung des Menschen im Goldenen Schnitt“. In der abendländischen Kunst repräsentiert der Goldene Schnitt das Ideal der Wohlproportioniertheit.
 
v.2f: Wenn die Figur die Arme / Erst einmal rechtwinklig ausgebreitet hat, dann weckt sie zugleich die Assoziation an den gekreuzigten Christus als Erlöser. Gleichzeitig wäre es auch eine Geste des willkommenen Empfangens. Der rechte Winkel ist wie der Goldene Schnitt als ein Formelement angeführt.
 
v.3f wird / Ein Stahlpaket dich erwarten −: Im Gegensatz zu den möglichen positiven Assoziationen der ersten zwei Verse bieten sich hier ‚rechtwinklige‘ Verbindungslinien von Kolbes Figuren zu Repräsentanten stahlharter Männlichkeit im Faschismus (‚Stahlpakt‘ zwischen Hitler und Mussolini / hart wie ‚Kruppstahl‘ / modern ’six-pack‘).
 
v.5: Oder der dort die Hand hebt?: Die Versgruppe eröffnet mit einer zweiten Frage, die eine zweite Figur aufruft. Das Heben der Hand könnte einerseits an den Hitlergruß erinnern, andererseits wäre es möglich, darin auch eine Geste der Verbindung (z.B. mit dem Himmel) zu sehen.
 
v.5ff Die Strahlen / … / Ganz Hingabe?: Die Figur scheint einen Mythos in sich aufzunehmen, der durch die antiken Sternbilder des Tierkreises versinnbildlicht wird. Gleichzeitig scheint der ‚ganze Tierkreis‘ für die literarische Tradition zu stehen, die, wenn man sich ganz dieser ‚Quelle‘ hingibt, zu einem Epigonen macht. Die damit verbundene Hingabe wird durch eine Geste der Abwehr und das darauf folgende Bild der Qualle verdeutlicht.
 
v.7f: Gespreizt unter dir nimmt nicht nur Bezug auf die sexuelle Dimension (s. zu v.1f), sondern thematisiert auch passive Hingabe, verursacht vom übermächtigen Aus-Strahlen der literarischen Tradition, die im Gegensatz zum wärmenden Sonnenlicht als kühle Sternentemperaturen das Lebendige beeinträchtigt.
 
v.9ff: Mit der Skulptur der Tänzerin, die Kleine am Brunnen, ist die Muse Terpsichore (zuständig für Tanz und Chorlyrik) gemeint, sie ist die Quelle (Brunnen) der Inspiration. Sie wird als besonders kunstfertig (Pirouettierend) dargestellt. Ihre Drehung auf der Fußspitze schafft die Verbindung zum ‚Versfuß‘ der Lyrik.
 
v.12: Im Gegensatz zum kalten Sternenlicht (vgl. zu v.7f) ist das Licht, dem sie ihre Schläfe zuneigt, das Licht der Transzendenz.
 
v.13ff: Lisalein ist die Koseform des Namens Elisabeth (‚Mein Gott ist Segensfülle‘); der Name dient mit (sag ich) als traditioneller Musenanruf (vgl. zu v.9ff). Die Musen gehören ursprünglich in die griechische Kultur, sie müssten ‚ergo‘ griechisch antworten, hier aber will das lyrische Ich mit Luthers Mund! geküsst werden, ‚ergo‘ auf Deutsch, das von dem aus Sachsen stammenden Luther, dem Schöpfer der deutschen Hochsprache, geformt wurde.
 
 
Form
 
Das Gedicht spielt mit der Form des Sonetts: lässt man die eingeklammerten Verse in der vierten Versgruppe weg, ergibt sich die traditionelle Figur eines englischen ’sonnets‘ mit drei Quartetten und zwei Schlußversen. Dafür spricht auch das verborgene Reimschema (a/b/a/b) in den Quartetten und in der letzten Versgruppe (c/c/a). Dabei zeigen die Verse 11 und 15 einen reinen Reim (und / Mund).
Möglicherweise symbolisieren die Gedankenstriche am Ende der ersten drei Versgruppen die noch offene Entscheidung des lyrischen Ich für eine der drei poetologischen Verfahren. Die Antwort auf die Fragen gibt dann die (gedankenstrichfreie) vierte Versgruppe. Andererseits könnte man sagen, dass die beiden Gedankenstriche am Ende der ersten beiden Versgruppen zwei negative Aspekte zusammenbinden, der dritte Strich aber die dritte Gruppe mit dem positiven Gedanken des Schlusses verknüpft.