Überblickskommentar
Das dem Intro folgende Gedicht erprobt programmatisch das Verhältnis von Rationalität (Kapitales) und Kunst (Kino). Die erste Versgruppe beschreibt die Lage des Berliner Kinos Capitol (Kunst und Mythos) neben der Silberlaube der Freien Universität Berlin (Intellekt und 68er-Marxismus). In der zweiten VG, dem Treppenaufgang, scheint der Gegensatz von Rationalität (Studenten, Plastikflaschen, Sprudel) und Mythos (lyrisches Ich, Olymp, Wein der ersten VG) im Hintergrund auf. Die dritte Versgruppe zeigt das lyrische Ich im Kinosaal: Angezogen von Kunst und Religion gibt es sich −mit Abwandlung eines Adorno-Zitates− einer Illusion hin, dem falsche(n) Leben (dem Kino, der Kunst, dem Mythos) Im nicht ganz richtigen (der rationalen, kapitalistischen Gegenwart).
Aus
Warnung vorm falschen Silber
5Des angrenzenden Intellekts
Aus blauem Plüsch in der Beletage
10Und bringen mit ihren Plastikflaschen
Den länger schon dehydrierten
Sprudelnd in Schwung
Gewoben aus warmem Gold
15
Auf und ich fühle mich schwach
Genug für ein falsches Leben
Im nicht ganz richtigen
Stellenkommentar
Bild: Abgebildet ist das seit 1946 bestehende Kino Capitol (Thielallee 36, Berlin) im bürgerlichen Bezirk Dahlem, gelegen neben dem FU-Gebäude Silberlaube. Die Villa, in der sich das Kino befindet, diente ab 1939 dem Präsidenten der Reichsfilmkammer Carl Froelich als Dienstsitz und Wohnung. Er ließ sich einen Filmvorführraum an seine Villa anbauen, um Filmproduktionen sichten zu können.
Titel: Der Name des Kinos Capitol wird vom Autor zur Ankündigung einer poetisch-realistischen Reflektion ausgeweitet. Mit der satirischen Nutzung des Marxschen ‚Kapitals‘ wird eine geschichtsphilosophische Dimension verbunden. Als Adjektiv wird ‚kapital‘ in der Jägersprache verstärkend als ‚groß‘, ‚ungewöhnlich‘ gebraucht, z.B. ‚kapitaler Bock‘. Umgangssprachlich wird es auch in Verbindung mit ‚Fehler‘ oder ‚Irrtum‘ genutzt. Rhetorisch wäre ‚Kapitales Capitol‘ eine figura etymologica (verschiedene Wortarten mit demselben Wortstamm werden miteinander verbunden).
v.1: Auf der Abbildung ist Rot rankender Wein unterhalb des Daches zu sehen. Es ist kein Zufall, dass hier zu Beginn des Gedichtes die Farbe Rot aufgerufen wird. Rot ist gemeinhin die Farbe der Revolution, hier kann sie auf die studentische 68-Bewegung mit ihrer Wiederaufnahme der marxistischen Gesellschaftskritik bezogen werden.
v.2ff unsichtbarer Wurzel: Der Wein, der hier aus unsichtbarer Wurzel herauf rankt, gemahnt an die ‚Wurzel Jesse‘, sie stellt die Abstammung Jesu aus dem Hause des Königs David als Lebensbaum dar, ausgehend von Jesse (Isai). Der Wein symbolisiert hier eine ‚überrationale‘ Geisteshaltung: angesichts Des angrenzenden Intellekts (v.5) führt er zu den Geisterreigen (v.6), zu archaischen Bildern, die auch das Kino (s. zu v.8. Ziehkinder des Olymp) kennt. Die unsichtbare(r) Wurzel lässt aber auch an das ideologische Gründungsbuch der 68er-Bewegung denken, das Marxsche ‚Kapital‘.
v.3f: Das Durchkreuzt bildet in der Symbolik des Kreuzes zusammen mit dem Wein (s. zu v.2ff) eine religionsphilosophische Warnung vor der linearen Gerichtetheit des Intellekts, die gerade Fassade der FU-Silberlaube mit ihrem falschen Silber.
v.6f: Die Werbung für die Filme (Geisterreigen) findet sich auf der Tafel rechts neben dem Eingang zum Kino. Der Geisterreigen erinnert an die beiden Szenen aus dem Faust, die, in der Faust zu Beginn des 2.Teils von den Geistern ins Leben zurückgeführt, und die, in der am Ende seine Seele in den Himmel (ironisch: Beletage) emporgetragen wird. Die Beletage ist normaler Weise ein Obergeschoss in Gebäuden, das einer ‚gehobenen Gesellschaftsschicht‘ vorbehalten ist. Dieses Kino hat aber keine Beletage, die Bezeichnung ist daher symbolisch zu verstehen als Vorausschau auf den Wohnsitz der Götter, den Olymp (s. zu v.8).
v.8: Ziehkinder ist eine Bezeichung für Pflegekinder. Die Studenten werden hier als Ziehkinder bezeichnet, weil sie am Busen der alma mater (hier der Freien Universität) ge- und erzogen werden. Darüber hinaus wird auf den im Theatermilieu spielenden Film ‚Kinder des Olymp‘ von 1945 verwiesen, der in der 68er-Studentenbewegung Kultstatus erlangte: wegen der Entstehung in Paris unter der deutschen Besatzung, der Widmung an die Arbeiterklasse und seiner melancholischen Poesie. Der französiche Titel (Les enfants du paradis) wurde zu Kinder des Olymp: Die Galerie (der höchste und billigste Rang im Theater, im französischen ‚paradis‚) wurde in deutschen Theatern Olymp genannt, ironisch, denn die niederste soziale Schicht wurde am höchsten platziert.
v.9f: Von den Studenten der 68-Bewegung schweift das lyrische Ich zu heutigen Studenten. Es imaginiert, wie sie das Ich über die Treppe hinauf ins Kino ziehn, die Ziehkinder. Natürlich trinken sie heute keinen Wein mehr, sondern gesprudeltes Wasser aus Plastikflaschen. Die Plastikflaschen symbolisieren die kulturelle Abfolge der Studentengenerationen, die den Wandel von Wein in Wasser vollzogen haben.
v.10f: Der Treppenaufgang lässt sich in mehrfacher Hinsicht deuten: 1) die christliche Vorstellung der ‚Himmelsleiter‘ (Jacobsleiter Gen. 28,11ff), 2) das wie eine Treppe geschichtete Gesellschaftsmodell (vgl. zu v.8 Olymp) und 3) die Wiederbelebung der marxistischen Theorie durch die 68er als Treppe aufwärts. Das länger schon dehydriert verweist sowohl auf die ‚Austrocknung‘ der christlichen Wurzeln als auch auf den gescheiterten Versuch der Wiederbelebung des Marxismus. Die heutigen ständig dehydrierten Studenten scheinen zu glauben, statt durch Wein durch ihr sprudelndes Wasser ein ewiges Leben trinken zu können.
v.13ff: Das lyrische Ich befindet sich in dem sich zu Beginn eines Films verdunkelnden Kinoraum, der – wie der Vorhang – aus warmen Gold Gewoben zu sein scheint. Das Adjektiv dunkelndem kann interpretiert als Herabminderung der Rationalität durchs Kino oder als Schwinden des religiösen Lichtes in der Gegenwart. Ebenso kann das Gold zweifach interpretiert werden. Als Goldgrund der religiösen Bilder ist es ein Hinweis auf die Transzendenz. Im Gegensatz dazu repräsentiert das Gold die Verführungsmacht des Geldes im Kapitalismus (vgl. dazu den Titel Kapitales Kino).
v.15ff: Auf der Realebene scheint das lyrische Ich sich schwach zu fühlen, weil es einen Abend im Kino (falsches Leben betrachtend) verbringt, statt geistig zu arbeiten. Die Schlussverse beziehen sich aber darüberhinaus auf die bekannte Sentenz Theodor W. Adornos: ‚Es gibt kein richtiges Leben im falschen.‘ (Minima moralia). Adorno meinte, dass in der BRD postfaschistische Strukturen soweit wirksam wären, dass ein moralisch richtiges Leben dort nicht möglich sei. Dagegen glaubt das lyrische Ich, dass zwar postfaschistische Strukturen in der Gesellschaft noch wirksam seien, das meint der Schlussvers (Leben / Im nicht ganz richtigen); aber dass doch dem Individuum ein eingeschränkt richtiges Leben (ein falsches Leben nach Ansicht Adornos) möglich ist. Man könnte unterstellen, dass das lyrische Ich sich selber ironisch Schwäche attestiert, um eine Unterwerfung unter den marxistisch geschulten Adorno zu simulieren.