Archiv des Autors: Uwe Homes

Was wird

Die Frage nach der Zukunft beantwortet das Gedicht Was wird mit einem hellsichtigen Blick auf Bodenzonen, Wolkenkerne, Mäusewicke und natürlich auf den Himmel. Unser Kommentar versucht, das nächtliche Bild etwas zu erhellen.

Sursum

Das Gedicht Sursum nutzt Fernsehsendungen, Seilbahnfahrten, den Wühltisch, einen Flammenwagen und Haferflocken (u.a.), um die Herzen seiner Leser zu erheben. Wir hoffen, dass unser Kommentar diese Elevationen unterstützt.

Berlin Berlin

Ein dritter Gedichtband ist uns erschienen: Berlin Berlin. Erfahrenes Berlin. 51 Ortserprobungen. Die einzelnen poetischen Reaktionen auf bestimmte Orte in Berlin können entweder über das Menü dieser Seite (s.o.) erkundet werden oder in jeder Buchhandlung erworben werden (Buchcover siehe rechts). Die zu den Gedichten gehörigen photographischen Erkennungszeichen hat diesmal Yoel García Lorenzo zur Verfügung gestellt.

Versuch

Im Gedicht Versuch gelangen wir von den Gesteinsknollen der Tiefsee über die Uferzonen mit Seerosen in die Häuserschluchten der City. Was dies mit der Evolution und der Poetologie zu tun hat, versuchen wir im Kommentar darzulegen.

Neue Bilder

Es sind 47 (!) neue Bilder von Rainer in der Galerie zu bewundern. Sie bilden den Anfang der Galerie, stehen also vor den Bildern, die die Werke der ersten beiden Gedichtbände zieren. Daher sind sie auch nicht benannt, sondern nur mit Nummern versehen.

Psychosoma

Von den Lustinstanzen zu Datingportalen, von portugiesischen Karavellen zu Shiva und Shakti und von der Elfenbeinküste zu den Kugelmenschen führt uns der Kommentar zu dem Gedicht Psychosoma. viel Spaß auf der inneren und äußeren Reise!

Der neue Gedichtband

Es ist uns ein neuer Gedichtband erschienen! Berlin Berlin enthält poetische Reaktionen auf berühmte, aber auch auf alltägliche Orte in Berlin; hinzugefügt sind photographische Erkennungszeichen von Yoel García Lorenzo. Daneben führen uns einige Gedichte durch Friedenauer Straßen – viel Spaß beim Nachwandern!

Theorem

Vor dem Hintergrund von Pier Paolo Pasolinis Film „Teorema – Geometrie der Liebe“ verfolgt unser Kommentar die im Gedicht Theorem versteckten Wendepunkte in Physik, Religion, Biologie und Mythologie sowie insbesondere in der bürgerlichen Gesellschaft. Viel Spaß.

Südstück

Sollte jemand in seiner Lese-Höhle Tantalusqualen leiden, weil er sich vergeblich nach einer Interpretation des Gedichts Südstück streckt und der Sinn immer wieder vor ihm zurückweicht, so sei ihm als Nahrung und Trank unser Kommentar empfohlen.

Vervollständigung

Auf seinen Corona-bedingten Aprilspaziergängen sind unserem Fotografen Rainer sieben weitere Fotomotive entgegen gekommen.
 
Zwei davon haben wir genutzt, die Gedichte der Sammlung „Blauton und Turbulenzgeräusche“ mit Bildern zu vervollständigen.
 
Sie sind hier zu finden:
 
https://lyrikkommentar.de/blauton-und-turbulenzgeraeusche/ins-weite/
https://lyrikkommentar.de/blauton-und-turbulenzgeraeusche/sursum/
 
Die weiteren fünf Bilder sind in der Bildergalerie unter der Bezeichnung Neu 20210401 bis Neu 20210405 alphabetisch eingefügt. Sie warten dort sehnsüchtig auf neue, noch unveröffentlichte Gedichte!

Neue Bilder

Rainer Elsmann, unser genialer Fotograf, hat uns einige seiner neuen, wundervoll leuchtenden Bilder zur Verfügung gestellt. Sie sind wie immer unabhängig von den Gedichten entstanden, sind also nicht als Kommentare oder Illustrationen zu verstehen. Sie können in der Bildergalerie (allerdings alphabetisch eingereiht in die bisherigen Bilder) bewundert werden, aber auch vor den folgenden Gedichten:
 
Aufhebung
Auf Kurs
Augenfällig
Beziehungsgeflüster
Dazwischen
Einstrahlungen
Es geht rund!
Farbspiele
Grundgewebe
Ibanoi und Bajau
Im Gefälle
Im Revier
Kontrapunkt
Psychosoma
Rappen und Rose
Seestück
Selbsthaft
Sensorisch
Sit infra
Spiegelungen
Theorem
Und Gleichgewicht
Unstet
Unterwegs
Verknüpfungsmuster
Versuch
Was wird
Wenn doch
Wer Poren hat
Zwei Enden zur Schleife
Zwischenräume
 
Beim meditativen Versenken viel Vergnügen!
 

Farbspiele

Das Gedicht Farbspiele (Blau und Gold) führt von der häuslichen Unterhaltungselektronik über die Griechen und Römer auf die blauen Schultern Mariens. Nach einem Ausflug zu den goldenen Sternen landen wir an der Goldküste des Schwarzen Meeres bei Jason und Medea, um danach ins biedermeierliche Wohnzimmer mit Drogenkonsum, Feuerwerk und Fußnagelschmuck (lapislazuliblau!) zurückzukehren

Über die Natur

Das Gedicht Über die Natur verbindet die Weltdeutung des Empedokles mit der (über die Natur hinausgehenden) Gentechnik und der Schaffung virtueller Welten. Den Tod des Empedokles im Ätna vollzieht das lyrische Ich durch einen Sprung ins Gedicht nach.

Ins Weite

Der Horizont des Gedichtes Ins Weite reicht vom Internet, den Maori, einem 1601 gestrandeten Wal über Horoskope bis zur Waljagd, dem Sternbild des Jägers Orion und seiner Mutter, der großen Bärin.

Aufhebung

Im Gedicht Aufhebung weitet das lyrische Ich (als Herkules) die Felsen bei Gibraltar mit Hilfe von Wahrnehmungstheorie, Geologie und Biologie so, dass Seeungeheuer das Mittelmeer durchdrohen können.

Tierkreis

Wer wissen möchte, was das Verzehrverhalten der Carnivoren mit dem griechischem Arzt Galen, dem Morgen- und Abendstern, einem Betriebsökonom und dem Naturphilosphen Alkmaion verbindet, sollte dies im Gedicht Tierkreis nachlesen.

Grundgewebe

Im Gedicht Grundgewebe richtet sich der Blick des Lesers aus den Furchen eines Kleingartens zu den Elementarteilchen des Paulischen Ausschließungsprinzips, nimmt einen Aufschwung zu einem Regenbogen und dem Quetzalcoatl, leidet mit den rückengekrümmten Ruderern der Argo und fliegt schließlich bedenkenlos von Frankfurt auf die Malediven.

Dazwischen

Im Gedicht Dazwischen werden wir erleuchtet! Durch die sokratische Gipfelspiegelkonstuktion im Valle Antrona, das Tymbalmagnifikat der Mannazykade, die Elektronenfährten der Lanthanoiden, das Bingo! performativer Blitze und schließlich durch die Colours of Joy am Berliner Dom.

Sit infra

Das Gedicht Sit infra exemplifiziert, wie ein Etagenbett den Blick auf die Weltstruktur prägen kann. Dabei rutscht Marilyn auf uns rum, wir entschleiern die Venus und nehmen Leonardo diCaprio als Rammblock wahr.

Unterwegs

Im Gedicht Unterwegs fahren wir mit einem Phaeton, einem Fiat, der Argo und der Kaiser Wilhelm II – und wir reisen auf NIMTZWELLEN. Der Kommentar erörtert die Frage nach dem Ziel: Delphi oder Friedhofsfinale ?

Augenfällig

Das Gedicht Augenfällig verbindet die Kritik an der rationalen, technischen und materiellen Moderne mit dem Mythos der letzten Arbeit des Herakles. Was der Markt, das Linnésche Klassifizierungssystem und Schwerefeldkonstruktionen damit zu tun haben, diskutiert der Kommentar.

Selbsthaft

Im Gedicht Selbsthaft führt der lyrische Weg über einen Apothekenbesuch zu den Erbkrankheiten eines Pharaos, über zwei Sternbilder zur Meditation und endlich zum hochgradig asozialen, grenzschizioden modernen Menschen. Näheres dazu bietet der Kommentar.

Wer Poren hat

Im Gedicht Wer Poren hat werden menschliche (Haut, Jeans) und tierische (Felle) Hüllen auf Mitleidsfähigkeit überprüft. Warum dabei die Neutrinos, die Empathie, die australischen Traumpfade, Augustin Osmond und 17-Cent-Bangladeshis miteinander verwoben werden, erläutert der Kommentar.

Blauton und Turbulenzgeräusche

Endlich sind alle Gedichte des Bandes Blauton und Turbulenzgeräusche auch auf der Website zugänglich. Viel Vergnügen bei der Lektüre! Die Kommentare werden weiterhin erstellt und nach und nach den Gedichten hinzugefügt.

Bresche

Im Gedicht Bresche machen wir eine Schiffsreise vom Paradies durch Totenplantagen zu einem sonnennahen Kometen, um dann endlich zu verglühen – bzw. in einem glücklichen Schiffbruch zu scheitern.

Langfristig

Die Immunisierungsstrategien der kurzlebigen Menschen gegenüber der Vergänglichkeit betrachtet das Gedicht Langfristig. Es sucht Rat beim chinesischen Herrscher Qin Shihuangdi, den Hindu-Weisen, den Argo-/Astronauten und den Druiden – um dann beim Handy ohne Empfang zu enden.

Absolutes Gehör

Im Gedicht Absolutes Gehör nähert sich das lyrische Ich – zunächst irrend durch labyrinthische Callcenter-Pfade – über die Stimme der Natur, über ein Mantra des Buddhismus und über Vollselbsterkenntnis (gem. Hegel): der Transzendenz, um endlich das Absolute hören zu können:
Heilige Jungfrau!

Am Schwarzmeerrand

Das Gedicht Am Schwarzmeerrand verknüpft einen kosmischen Blick des lyrischen Ich auf das Gelingen eines Gedichtes mit dem Wunsch des antiken Helden Sthenelos, einmal aus der Unterwelt ans Schwarze Meer zurückkehren zu dürfen, um dort die Argo vorbeisegeln zu sehen.

Apfelrhapsodie

Das Gedicht Apfelrhapsodie konfrontiert die sexuelle Liebe mit der platonisch-transzendenten Liebe: Und dies mit Hilfe eines Spülbeckens, des römischen Diktators Fabius Maximus, dem Urknall, der Venuslaufbahn, eines Apfels, der Dichterin Sappho und dem Quant Spitzmaus eines Mannes.

Coda

Einen Kommentar zum Fleischkonsum in Mythos und Moderne bietet das Gedicht Coda. Es beginnt in einem Burger-Drive-in, begegnet Kandinsky und der Nachtigall Philomela, und kehrt über Karel Gott und rehydrierte Rattenherzen zu einem Staßenfest zurück.

Lesung am 02. Mai 2017 aus „Blauton und Turbulenzgeräusche“

 

 

Liebe Freundinnen und Freunde des Verses!
 
I
 
Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, Verse zu hören, und ich danke Ihnen. Ich danke aber auch Ihnen, Frau Lublina, Herr Loch und Herr Schoff, dass Sie die Pforten Ihres Zauberbergs für uns heute Abend gastlich geöffnet haben. Ebenfalls danken möchte ich vor allem meinem Freund Uwe Homes, dass er auch diesmal wieder viele der Mühen, die mit der Herausgabe eines Gedichtbandes verbunden sind, so selbstlos auf sich genommen hat, und Herrn Dr. Hufmann sowie Frau Grig vom Frieling-Verlag, dass es wieder ein so ansprechender Band geworden ist; und danken möchte ich auch meinem Freund Rainer Elsmann, dass er auch diesmal wieder eine seiner faszinierenden Fotografien für die Umschlaggestaltung zur Verfügung gestellt hat.
Blauton und Turbulenzgeräusche. Daraus werde ich Ihnen heute Abend vierundzwanzig Gedichte vorlesen, also die knappe Hälfte; nach dem zwölften, denk ich, sollten wir eine kleine Pause einlegen. Wer den Band zur Hand hat, mag gern darin mitlesen (ich werde die Seitenzahlen ansagen); das Druckbild unterstützt ja den modernen Vers, der auf seine ursprüngliche Stütze, die Musik, verzichten muss. Mit Musik kann ein Vers natürlich viel leichter Kraft entfalten, magische sogar, selbst wenn, ja häufig gerade dann, wenn man die Worte gar nicht versteht. Denken Sie an Lieder in fremden Sprachen, das können sogar sehr fremde sein: Tangi-Lieder z.B. der Südsee-Insulaner oder Gesänge von Ba-a-ka Pygmäen. Von den letzteren, so wird beispielsweise berichtet, genügte ein einfacher Tonbandmitschnitt, um Louis Sarno, einen später berühmten Amerikaner aus Jersey, für immer in den afrikanischen Busch zu locken, wo er dann sogar eine Ba-aka-Frau heiratete. Andere wiederum, wenn sie nur das Arekuru toppu no naka der Pop-Gruppe Tokio Hotel singen hören, ziehts magisch nach Japan.
Kein Wunder also, dass man früher hinter solchen Kräften Götter vermutete – in der Antike bekanntlich die Musen, nicht ohne Grund auch die Hochgekehlten geheißen, und, natürlich, als Hahn in ihrem Korbe Apoll. Doch was für eine tiefe Intuition nun aber des Mythos, dass bei der Geburt dieses Gottes, des Gottes der Kunst, Delos, die Geburtsinsel, aufhörte, ruhelos über das Meer zu flottieren! Sie wurde ortsfest, und nicht genug damit: Sie wurde auch über und über und durch und durch golden (leider nur vorübergehend). Apolls Lieblingstier aber, der Schwan, avancierte zum Wappentier für begnadete Dichter: Pindar als Schwan von Theben, seiner Heimatstadt oft auch Dirkäischer Schwan,nach einer dortigen Quelle, und der Schwan von Avon für Shakespeare.
Das alles aber ist noch gar nichts gegen die indischen Götter! Die gingen nämlich höchstselbst direkt in die heiligen Texte, die Veden, ein. Damit wurde die Sprache selbst göttlich, etwa das preisende Om mani padme hum (du Juwel in der Lotusblüte) oder das allidentifizierende tat twam asi (das bist du). Und auch Versmaße partizipierten an dieser Göttlichkeit, weil sie Schutz gegen profane Zudringlichkeiten boten.
Heute, wir wissen es alle, ist das herrschende Paradigma nicht mehr die Religion, sondern die Wissenschaft ist es und die Technik. Denken wir, von der Religion herkommend, nur einmal an die Astronomie !
Die sieht nun mit ihren Teleskopen und Spiegelteleskopen, dass beispielsweise die Ursa Maior alles andere ist als eine verstirnte große Bärin; und sie entdeckt keine Spur davon, dass die Seelen der Menschen, um sich zu inkarnieren, vom oberen Himmel herabsteigend an den sieben Planeten vorbeigleiten und von deren unterschiedlichen Metallen entscheidend für Charakter und Schicksal affiziert werden. Ja, wir selber können mit einfachem Fernrohr schon sehen: Auf dem Parnass oben gibts keinen Apoll, nicht einmal heilige Schwäne! Die haben ihr Habitat als Cygnus Cygnus in Linnés binärer Nomenklatur aufgeschlagen und zerfallen in Geno- und Phänotyp, die lassen ihre Gehirnwellen noumenal in den Modi des griechischen Alphabets schwingen und schütten Dopamin aus in Form von Gesang, deren Körper besteht, unter ein Rastermikroskop gepackt, fast nur aus Leere – genauso wie unser eigener.
Gottverlassen nun also, ach, auch die Dichter! Und damit nicht genug: Ihr wichtigstes Werkzeug, die Analogie – unglaubwürdig erscheint sie jetzt, denn in der Wissenschaft gilt Ursache und Wirkung, nicht die bildhafte Entsprechung. Vorbei also mit der Überzeugungskraft von Vergleichen, Metaphern, Symbolen, mit den Sternen als Augen der Geliebten, mit dem Mond als ihrem Angesicht! Alles, wissenschaftlich gesehen, lachhaft. Allerdings gibt es Skeptiker, die sagen: Das wissenschaftliche Paradigma, vielleicht ist es ja kein letztgültiges und hat seine Zeit ebenso wie der Mythos. Kann man sich zwar heute nicht vorstellen, konnte aber ein alter Ägypter mit der Doppelhelix ebensowenig. Die Skepsis beruht auf dem Verdacht: Nicht in dem zwar, was sie sagt, sei Wissenschaft fragwürdig, sondern in dem, was nicht sagt, weglasse, methodisch bedingt weglassen muss. Und wie die Wissenschaft den Mythos in ein ironisches Zwielicht taucht, so spiegelt die Skepsis, für den Mythos Partei ergreifend, genau dieses Licht zurück mit einem lächelnden Warts ab, auch du bist nicht ewig! Dann wäre die Analogie also doch nicht entthront, ja, mehr noch, sie stünde für ein Entsprechungszeichen zwischen Mythos und Wissenschaft. Und Wahrheit, Wahrheit wäre dann etwas, was nicht durch ein je kulturell relatives Paradigma erschließbar wäre, sondern was allenfalls aufscheint im Netz analoger Annäherungsversuche, wie sie in diversen kulturellen Paradigmen unternommen worden sind und noch unternommen werden.
Doch nicht nur die Analogie, auch die Sprache selbst scheint heute fragwürdig geworden: Nichts Göttliches, sondern lediglich Kehlkopffunktion, die sich mindestens bis zum Cro-Magnon-Menschen und der Kopula – aus Leder, mit der er zwei Steine verband, zurückverfolgen lässt – Poly-lith nennt das die Wissenschaft. Kopula, Polylith – Sie hören schon: Kalte Laborterminologie! Nicht sehr lyrisch! Und außerhalb des Labors, was hören Sie da? Ich vermute: meist lauwarmes Alltagsgebrabbel! Das gültige, runde, wahre Wort jedoch, das die Dichter brauchen, es entzieht sich so wie die Frucht, nach der der hungrige Tantalus immer wieder vergebens hascht. Nur: Vor analogen Problemen standen die Dichter seit je. Im Schutt von Babylon soll man eine Tontafel gefunden haben, auf der ein Dichter klagt, dass nunmehr schon alle Formen verbraucht seien. Trotzdem fanden Dichter immer wieder zu einer eigenen Sprache: wie gute Köche, die aus der Unmenge brauchbarer und unbrauchbarer Zutaten und trotz der genauso großen Menge der fehlenden kraft kulinarischer Phantasie diejenigen zusammenzustellen verstehen, die für ein schmackhaftes Menu taugen. Und wann gab es vielfältigere Zutaten als heute, in der globalisierten Welt? Und außerdem: Wann hatte man raffiniertere Küchengerätschaften? Heute, wo wir wie selbstverständlich mit diesen superscharfen japanischen Haiku-Kurouchi-Urmessern hantieren und eckigen Tamagoyaki-Pfannen. Hören wir uns einmal an, wie das geht!
 
Küchenlied
Mit doppeltem Bügel
Auf Kurs
Kontaktgeschehen
Tierlieder
Südstück
 
II
 
Ja, diese Saturnringe! Galilei war bekanntlich der erste, der einen entdeckt hat: mit einem Fernrohr. Seitdem gilt: Je mehr Technik, desto weniger Mythos. Mit unseren heutigen Spiegelteleskopen können wir nicht nur über die Milchstraße hinausschauen, sondern wir sehen auch: Der einst göttliche Kosmos besteht fast nur aus Vakuum (also genau wie unser eigener Leib). Und mittels des Super Proton Synchroton des CERN können wir sogar bis fast zum Urknall zurückblicken: Nur 10hoch minus 43 Sekunden trennen uns noch davon, die Plancksche Schranke.
Von alldem kann jedermann sich heute in Fernsehsendungen, beispielsweise mit Harald Lesch, selber ein Bild machen (wenn er nicht lieber die Sportschau, die Hafenkante oder die Criminal Minds guckt). A propos fern-sehen – in der Antike übrigens hieß das: von Lilybaion bis nach Karthago sehen können, sprich von Sizilien bis Afrika. Aber was hatten die damals für Augen! Empedokles, wie sein Zunftgenosse Alkmaion u.a. auch Physiologe, sah noch Urfeuer in ihnen brennen. In Akrigent lebend, also nicht gar so weit weg vom Ätna, wusste er, wie so etwas aussieht. Das leuchtete natürlich auch aus den Augen der Götter, noch intensiver sogar, weil niemals auch nur durch den kürzesten Lidschlag unterbrochen. Woran Götter zudem unfehlbar zu erkennen waren. Wenn also damals jemand mit nur ein Paar Flügelchen an den Sandalen als Hermes Psychopompos, als Seelengeleiter also, Sie ansprach, um Sie in die Unterwelt abzuholen, brauchten Sie ihm nur auf die Augen zu schauen und wussten: Aha, nein, der klimpert, der ist nur Schlepper in ein Bordell. Ja, noch im Mittelalter hatte auch der christliche Gott etwas von diesem Augenfeuer, wenn er als Sonne segnend vom Himmel blickte. Ein Segen, der noch die kleinsten Wesen erreichte: Eidechsen z.B., Lazerta geheißen, falls sie von Alterserblindung bedroht waren, holten sich frische Sehkraft einfach durch einen Blick in die aufgehende Sonne. Sie mussten nur, bevor sie sich schlafen legten, eine geeignete Position finden
Die moderne Naturwissenschaft nun hat zwar, trotz strengster Befragung der Magna Mater Natura, eine solche Regenerationsgnade für Echsenaugen noch nicht bestätigen können. Sie scheint aber auf gutem Wege. Hat sie doch immerhin schon festgestellt: Es gibt Insekten, die mit noch ganz anderen Körperteilen hören können als mit Ohren. Da wäre vielleicht auch für den Homo Sapiens noch Evolutionspotenzial! Andererseits aber: Sind uns nicht oft schon unsere zwei Ohren zuviel? Lärm! Überall Lärm! Vor allem Verkehrslärm! Früher, da gab es zwar auch schon Verkehrstechnik, aber war sie laut? Des Dädalos Flugapparat zumindest bestand im Wesentlichen aus Wachs und Federn. Und die Argo? Nicht irgendein Lärm, den sie beim Fahren entwickelte, drang über den Orbis terrarum hinaus bis hinab in die Unterwelt, sondern der Ruhm ihrer Geschwindigkeit (Argo heißt ja auch nicht die Laute, sondern die Schnelle)! Man weiß das sehr genau, weil Sthenelos, ein Krieger, der am Ufer des Schwarzen Meeres beerdigt worden war, bei Persephone inständig um Kurzurlaub einkam, nur um von seinem Grabhügel aus einmal einen Blick auf dieses Schiffswunder werfen zu dürfen! Einzig Poseidon, heißt es, fühlte sich indigniert und glaubte, das Goldene Zeitalter, jetzt gehe es zu Ende.Vielleicht hatte er ja doch mit seinen feineren Götterohren ein Knarren der Wanten oder ein Stöhnen der an den Rudern schwitzenden Helden gehört und hat es bis in die Zukunft extrapoliert, unsere Gegenwart also, die ja von Lärm erfüllt ist: Lärm auf den Straßen, Lärm am Himmel (es scheint massenweise Leute wie Howard Hughes zu geben, diesen Milliardär, der sein halbes Leben im Flugzeug hinbrachte) und Lärm zu Hause, wenn wir Bayreuth oder, je nachdem, Judas Priest auf den originalen Heavy-Metal- Dezibel-Pegel hochfahren.
Bis zum Katzenjammer. Und dann: Sehnsucht nach Klosterstille… Lotus-Sitz… Yoga mit Asana-Übungen… Nur eben: Nicht lange! Schon bald nämlich wieder diese Unruhe, irgendwo irgendwas zu verpassen, und wärs nur den Teil einer Fernsehserie ….
 
Zurück in die Ferne
Kontrapunkt
Absolutes Gehör
Bresche
Zwischenräume
Planskizze
 
(Pause)
 
III
 
Wunderbar, wie viele trotzdem heut Abend den Weg hierher gefunden haben! Mai ist für Veranstaltungen ja prekär, beginnt just jetzt doch die Reisezeit. Und wen Madeira und Malle schon langweilen, der kann non stop selbst entfernteste Weltgegenden erreichen, exotische Völkerschaften mit lockenden Namen wie Ibanoi oder Bajau oder Amungme-Papua, indigene Völker, wo es noch Rundtänze und echte Geistheiler gibt – also nicht einfach phantasielos Dr. med., sondern kahuna lapa`au und ähnliche. Eine Heilkunst, fremder für uns noch als die des alten Römers Galen mit ihren vier Körpersäften!
Wer genug Zeit hat, Rentner z.B., der kann aber auch per Schiff reisen. Halade Mystai! Ihr Eingeweihten – ins Meer! Schiffsreisen sind ja sehr zuverlässig geworden. Nicht mehr, wie früher, die umständliche Orientierung an Sternen. Die sind, zur See, bedeutungslos heute, und zu Land ebenfalls: Der Abendstern, christlich die Stella Maris, glänzt ohne Marientrost, und heidnisch, als Venus, braucht man ihn ebensowenig für die Liebe wie den Mars, unseren Nachbarn zur anderen Seite, für den Krieg. Kein Wunder, dass die Gestirngötter beleidigt sich immer weiter zurückziehen! Unsere Astronomie, blind für die Melancholie verlorener Würden, registriert das nur platt als Vakuum-Expansion des Kosmos.
Schiffsreisen also. Sehr gemütlich, weil vergleichsweise langsam. Allerdings: Nur wer bald schon startet, kann Tuválu, diesen Koralleninsel-Staat, noch erreichen, bevor ihn der steigende Meeresspiegel zudeckt. Was nun aber die Amungme-Papua angeht – für den heiligen Gras-Berg dort kommt er so oder so zu spät. Da findet er jetzt schon nur noch die Wühlkrater von Freeport-Copper&Gold.
Andererseits, wie heißt es so schön vom Reisen? Der Weg ist das Ziel. Schauen wir also stets aufmerksam über die Reling. Mit viel Glück erblicken wir dann vielleicht die berühmtesten Enten der Welt. Sie wissen schon: die 29 000 Badewannen-Entchen, die, vor 25 Jahren aus einem Kontainer entwischt, seitdem über die Weltmeere zirkulieren. Oder wir erblicken, mit weniger Glück, weil doppelt so groß wie Deutschland, den Großen Pazifischen Müllstrudel.
Unangenehm dabei vor allem, dass man dann unterwegs schon an den Berg Schmutzwäsche denken muss, den man zuletzt mit nach Hause bringt. Und wehe, wenn dann die Waschmaschine mal wieder defekt ist und kein Reparateur greifbar! Aber:Trösten wir uns! In Japan ist man schon dabei, Waschmaschinen zu entwickeln, die kann man selber mit nur einem einfachem Schraubenzieher bis in die kleinsten Bestandteile zerlegen! Wie gesagt: zerlegen …
Vielleicht aber ist man ja auch irgendwann reisemüde und bleibt zu Hause. Systole und Diastole. Man muss ja nicht gleich ins Kloster gehen wie, so wird berichtet, ein Peter Buchholz, nachdem er jahrelang über die Weltmeere gefahren war. Der wurde zuletzt Franziskaner, blieb ortsfest in Kreuzberg und schenkte dort Armensuppen aus. Ich nehme an: fleischlose. Das war er dem Stifter seines Ordens schon schuldig. Und vielleicht nicht nur ihm.
 
Tierkreis
Verknpüpfungsmuster
Ibanoi und Bajau
Am Schwarzmeerand
Es geht rund!
Einstrahlungen
 
IV
 
Dreimal Mond – beinah schon ein romantisches Naturgedicht – fehlt nur noch der Abendstern. Apropos die Venus: Wenn Sie den Gang dieses Planeten über den Himmel, wie weiland Kepler, geduldig acht Jahre lang auf Papier nachzeichnen, erhalten Sie ein vollkommen regelmäßiges, wunderschönes Rosenmuster. Bei weniger Geduld nehmen Sie einfach einen Apfel, der ist Venus ebenso heilig wie die Rose, und schneiden ihn quer durch, dann haben Sie immerhin einen Stern in der Hand.
Vorsichtige Charaktere allerdings gehen zu dieser Dame lieber auf Distanz – wegen ihrer Unberechenbarkeit. Die halten sich lieber an die Philosophen, z.B.Plato. Sie erinnern sich: das Konzept von den Doppelmenschen. Sehr sinnreich! Die Menschen, ursprünglich immer kugelförmig zu Paaren vereint, dann aber wurden die Kugeln zerteilt und seither sucht sehnsuchtsvoll eine Hälfte die andere, einzig und ideal passende.
Die Risikofreudigen aber natürlich, die setzen weiterhin auf die Liebesgöttin. Man kann dabei Glück haben. So Phaon, ein einfacher Fährmann zwischen Kleinasien und Lesbos. Bei jeder Frau hatte der Erfolg, sogar bei Sappho (der sonst doch ganz andere Neigungen nachgesagt werden). Manche behaupteten allerdings, dieser Erfolg gehe zurück auf eine magischen Salbe, mit der seine Haut bestrichen war. Möglicherweise eine römische Unterstellung.
Denn die Römer, die standen ja geradezu unter magischer Obsession. Selbst bürokratische Amtshandlungen, z.B. die Einsetzung eines Beamten, Konsuls oder Diktators, folgten peinlich genau der Rezitation ritueller Texte. Und wehe, wenn da ein Nebengeräusch auftrat, ein Husten oder ein Niesen – sofort alles ungültig! Laut und Ding mussten so rein, so perfekt zueinander passen wie Schloss und Schlüssel, ganz wie das Sesam öffne dich! zur Tür der Höhle. Oder denken Sie an die Müllerstochter! Und dass sie das Rumpelsstilzchen erst dann in die Hand bekam, als der Name genau passte. Da versteht man das Bild vom gefügelten Wort auch schon wieder besser: das Wort, das wie ein (gefiederter) Pfeil das Herz trifft.
Was aber nun die Liebe angeht, so wurde sie am großartigsten wohl von den Indern geheiligt. Als kosmische Urkraft, häufig mit überdimensionalen Nachbildungen von Linga und Yoni, also von männlichen und weiblichen Geschlechtsteilen, wurde sie gefeiert und angebetet, nicht anders als Shiva und Shakti selbst.
Kein Wunder daher, dass die Portugiesen mit ihrer Mission dort keinen Erfolg hatten. Technisch waren sie überlegen – nicht nur mit ihren Feuerwaffen, sondern auch mit den Karavellen, diesem Schiffstyp, der sehr effektiv aus verschiedenen Typen zusammengesetzt war. (Phönix hat das erst neulich wieder für Fernsehbildungs-Adepten anschaulich zu machen versucht.) Aber die christliche Botschaft mit Glaube, Liebe und Hoffnung, die überzeugte in Indien nur wenige. U.a. gewiss deshalb, weil diese Liebe eben nicht den Leib mit seiner Sinnlichkeit feiernd einbezog.
Genau das machen manche Kulturkritiker übrigens auch verantwortlich für die aktuelle Ausbreitung von Pornografie, Promiskuität und Prostitution. Und was die Theologie jahrhundertelang versäumt hat – die Wissenschaft, in Gestalt von Psycho-Beratung, die soll es nun richten, soll die Liebe ins Lot bringen.
Nur: keine Kritik ohne ihre Kritiker. Die frühere theologische Einäugigkeit, so meinen die, sei nur durch eine wissenschaftliche abgelöst worden. (Sie erinnern sich: Die Wissenschaft lüge nicht, aber lasse aus.) Ja, und nun? Die ganze Wahrheit, wo, wie? Faust paktierte bekanntlich dafür mit dem Teufel, Empedokles sprang in den Ätna, die Mystiker lösen sich auf im unendlichen Meer der Gottheit, die Skeptiker sagen mit Benn siehe Pilatus, die Dichter, ja, die Dichter, bilderbeseligt, immer aufs Neue werfen sie Netze von Analogien aus …
 
Psychosoma
Über die Natur
Beziehungsgeflüster
Unstet
Apfelrhapsodie
Wenn doch
 

Lesung am 20. November 2013 aus „Die Optimierung des Turmspringens“

 

 
Sehr verehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
 
vielen Dank, dass Sie heute gekommen sind, ein paar von meinen Versen zu hören!
Besonders danken möchte ich Herrn Professor Behrmann, verdanke ich ihm doch die gründlich-sten Erkenntnisse darüber, was Lyrik im Allgemeinen und die moderne Lyrik im Besonderen ist und vermag.
Und ich freue mich auch, dass Herr Rhode, mein langjähriger Oberhirte, trotz mancher Schwierigkeiten hierher gekommen ist; hat er doch dankenswerterweise stets ein hochherziges Verständnis dafür gehabt, dass ich nicht immer nur habe Schafe hüten wollen.
Zu danken habe ich aber auch und vor allem Herrn Homes und Frau Dr. Knackstedt, ohne deren Anstoß und aufopferungsvolle Arbeit dieser Gedichtband nicht erschienen wäre.
Mein Dank gilt auch Herrn Elsmann, der mir eine seiner wunderbaren Fotografien für die Umschlaggestaltung großzügigerweise zur Verfügung gestellt hat.
Und zu danken habe ich ebenfalls Frau Kowarsch vom Frieling-Verlag, dass sie das Erscheinen dieses Bandes so sorgfältig, geduldig und freundlich begleitet hat.
Schließlich danke ich auch Ihnen, Frau Liublina und Herr Loch, dass Sie die Pforten Ihres Hauses für diese Veranstaltung so bereitwillig geöffnet haben – eine Veranstaltung ja auch, in gewissem Sinn, durchaus prekärer Natur.
So hat Brecht einmal gesagt, bei Gedichten sei jedes der Feind des anderen, d.h. ein jedes beansprucht einen eigenen Raum um sich herum – in einem Buch etwa eine eigene Seite – und vor allem auch auch seine eigene Zeit, damit es sich entfalten kann. Kein Wunder also, dass es nur wenige Gedichttypen gibt, die für einen Vortrag en suite geeignet sind, am ehesten vielleicht Balladen und neuerdings natürlich die Slam-Poetry. Lyrik im engeren Sinne, so wie sie sich bei uns als Erlebnisgedicht herausgebildet hat, dagegen schon weniger, und moderne Lyrik, also jener Typus, der sich in der Tradition der sog. klassischen Moderne eines Pound oder Eliot bewegt (und der Sie jetzt gleich erwartet), der nun schon gar nicht.
Der Grund dafür ist ebenso bekannt wie einfach: Diese moderne Lyrik ist nicht leicht zugänglich. Das trifft zwar auf vieles andere in der modernen Kunst ebenfalls zu; aber der Dichtung verzeiht man es am wenigsten. Denn – im Unterschied etwa zu Malerei und Musik – arbeitet sie ja mit einem Material, das jeder von uns täglich gebraucht, und zwar zur Verständigung – und das erscheint nun plötzlich im Modus der Unverständlichkeit!
Warum das? Ein Grund dafür ist zweifellos die viel berufene Komplexität der modernen Welt selbst, deren authentischer Ausdruck diese moderne Kunst und eben auch die moderne Lyrik ja sein will. Sie wissen doch: Vom Mobiltelefon in unserer Hand bis zum Quasar XY am Rand des Weltraums, von der Bezirksversammlung der Grünen bis hin zum Banken-Crash sind wir von Dingen und Vorgängen umgeben, die wir nur ansatzweise verstehen. Wir sind, nolentes volentes, Mitspieler in einem Spiel, von dem wir, wenn wir uns ehrlich Rechenschaft geben, nur sehr wenig begreifen.
Nun hat diese schwierige Zugänglichkeit aber auch, wie schon oft bemerkt worden ist, ihr Gutes: Sie stellt nämlich Stacheln auf gegen eiliges Konsumieren, vor allem jedoch bringt sie das künstlerische Material als solches und für sich selbst in Stellung: in der Dichtung also die Sprache, ihren Klang und ihre Bilder. Die können nun nämlich gewissermaßen ein Reich eigenen Rechts errichten, in dem sie nicht mehr zu bloßen Eilboten einer Information degradiert sind und nach getaner Schuldigkeit sogleich wieder entlassen werden. Wer sich bei den gelungenen Exemplaren dieses Typus also nur dem Wort, dem Klang und den Bildern öffnet, kann daher eine im reinsten Sinn poetische Welt erfahren.
Trotzdem aber verzichtet auch das moderne Gedicht nur selten vollständig auf so etwas wie ein Sinn-Substrat. Es will allerdings, dass wir, mit Valéry zu sprechen, einen Teil des poetischen Vergnügens uns selbst verdanken – durch ein wenig Kopfarbeit nämlich. Dann erst will es uns wie die Jerichorose, wenn wir ihr graubraun dürres Kraut lange genug geduldig gewässert haben, irgendwann die Farbe seiner inneren Wahrheit offenbaren. Leider allerdings eine Farbe, die selten oder nie eindeutig zu definieren ist. Und so eröffnet es uns stets, neben einer Reihe gangbarer, auch mindestens ebenso viele Holzwege zu seiner Deutung; u.U. begegnen wir dann , wie in einem Spiegelkabinett, immer wieder nur uns selbst. Unumgänglich also Geduld und Einfühlung; robuster Zugriff dagegen macht die Botschaft unleserlich; das ist dann, wie wenn Sie das Stemmeisen auf ein Rubbellos ansetzen – und schon ist sie futsch,die Mittelmeerkreuzfahrt!
Sie können jetzt natürlich sagen: Wozu mit der Kirche ums Dorf? Es gibt doch auch einfache Verse. Und Sie könnten einem Dichter wie Valéry empfehlen, es doch lieber damit zu versuchen. Schreibt sich schneller, liest sich leichter und verkauft sich besser. Jaja, würde er antworten, ich würde vielleicht ganz gerne. Nur: Wenn Sie wirklich aufs Dichten sich einlassen, steht Ihnen der Stil, in dem Sie sich authentisch ausdrücken können, fatalerweise nicht frei. Es ist dann Ihr höchst eigener Sprachgeist selbst, der die Regie übernimmt, und Sie selbst sind in eine wesentlich passive Rolle verwiesen, bestenfalls Co-Pilot, meist aber nur Tandemsitz, und zwar hinten.
Doch ich verschwatze mich, und Sie sind hier, um Gedichte zu hören. Fangen wir also endlich an! Insgesamt werden es 18 sein; ich werde aber nach dem neunten 10 Minuten Pause machen. Wer den Gedichtband zufällig besitzt und es möchte, soll gern mitlesen; ich werde jeweils die Seitenzahl ansagen. In jedem Fall werde ich den Umfang des jeweiligen Gedichts vorher skizzieren; meiner Erfahrung nach fällt das Aufnehmen dann leichter. Die ersten drei Gedichte finden Sie im ersten Zyklus, d.h. unter den Sechs vorbeugenden Selbstexplikationen, einem, wie der Titel schon andeutet, poetologischen Zyklus:
 
Fühlsache
Roadmoving
Rose von Jericho
 
 
Sylphen, Tamerlan und Kojimas Kassiber – allzu entlegen? Nicht doch! Frag nach bei Homer! Schon unser Ur-Barde ließ so mancherlei treiben im Strom seines hochtönenden Sanges, was seinen Zuhörern allenfalls ahnungsweise verständlich war. Aber: Es klang eben gut! Vielleicht gerade deswegen. So ist denn, wie figura zeigt, die Brücke zwischen Dichter und Publikum seit eh und je schadhaft gewesen; und das ist wohl sogar noch der günstigere Fall, verglichen mit unserer Alltagsdiskurswelt, wo Kommunikation nicht einmal mehr Bröckelbrücke ist, sondern – siehe Watzlawick – meist nur noch Absturz vom Hochseil.
Da kann selbst die Technik nicht helfen, die doch sonst alles so leicht macht und einfach, im Gegenteil: Sie kreiert sogar noch neue Absturzfiguren: Telefonieren Sie mal! Wie viele Missverständnisse allein schon deshalb, weil Sie das Mienenspiel am anderen Ende nicht sehen und Spaß für Ernst nehmen und umgekehrt! Und nun erst unser „ Handy“! Da platzen doch immer wieder Anrufe in Situationen, die passen da rein wie das Huhn in den Heringsschwarm! Sagen wir: Direkt aus Verona, direkt aus der Arena, direkt „Aida“, supertoll! auf richtigen Elefanten! – und Sie vielleicht gerade unterwegs zu einer Beerdigung. Oder, weniger spektakulär, ich selbst neulich auf dem Heimweg von einem Urania-Vortrag, „Der Sternenhimmel im Herbst“. Und ich also den Kopf immer noch voll mit Bootes und Aldebaran, mit dem Stier und den Doppelsternen im Schwan, dazu die NGC 1275 und der M1-Nebel und wie all das wild durch den Weltraum wirbelt – und da plötzlich, klingling, will jemand von mir die Details meiner Haftpflichtversicherung bei der HUK Coburg wissen. Oder noch etwas: Denken Sie mal an die Bösartigkeit schalltechnischer Kommunikations-Torpedos: Hi-fi-Stereo, volles Rohr aus dem Off, und jetzt können Sie brüllen wie Stentor, jeder zweite Satz kommt als Songfetzen an. Oder die Minimal-invasiv-Variante: Winzige Lautsprecherknöpfe, die, während Sie reden, dem andern die Ohren verstöpseln (und wenn er langhaarig ist, merken Sie das nicht einmal).
Nun will ich die Elektronik nicht in Bausch und Bogen verteufeln. Hat ja auch ihr Gutes. Z.B. können Menschen, die von räumlich einander getrennt sind, zumal Liebende, dadurch doch trotz allem eine Art Zusammensein erleben. Und mehr noch sogar. Denn irgendwie – fast hätte ich gesagt: sub specie aeternitatis – ist es doch auch ein magisches Faszinosum: diese elektronische Hülle aus potentiellen Lauten und Emotionen rund um den Erdball! Und in regressiven Momenten möchte man beinah gar glauben, es gehört auch eine Art Götter dazu, andere natürlich als die altausgedienten: eine andere Aphrodite, kühler vermutlich, die da aus magnetischen Schäumen als Amplituden-Anadyomene heraussteigt, und ein anderer Apoll, der, falls er überhaupt noch Spanndienste leistet, seinen hohen Funk-Wagen statt mit den bräsigen Musen mit einer Art Blitz-Mädels voll geladen hat. Aber ich merke, ich komme vom Kurs ab; ich fahr mal lieber fort mit Vorlesen.
 
Unter dem Abendstern
Abendland
Der Westwind bei Taormina
 
 
Mit dem letzten Gedicht sind wir, Sie haben es bemerkt, durchs Dickicht der Missverständnisse an den Rand eines Abgrunds gelangt: den zwischen den Generationen. Der fängt schon dort an, wo alles, was diese Jugend tut oder sagt, für ältere Nerven einfach zu laut ist: ob Stereoanlage, E-Gitarre oder gar Mofa – stets halten wir Älteren uns die Ohren zu und fragen uns, ob diese Jüngeren überhaupt welche haben.
Und dann, ach, diese Manieren! Im Bus dieser Eh-Alter-Slang über drei Bänke hinweg, vorm Kino dieses schweißdünstende T-Shirt-Gedrängel, und, hilf Himmel! in Museum oder gar Kirche, falls sie da wirklich einmal hinein müssen, gruppenweise gezwungen, dann versuchen sie wenigstens ihren Döner weiter zu futtern, laut lachend natürlich und beidhändig. Und dort – Museum, Kirche – nun auch noch der Bildungs-Abyssus! Ob Petrus oder die Gotik, ob Dalís zerlaufene Uhren oder Beethovens Klavierkonzerte – eigentlich, denken wir, immer wieder enttäuscht, eigentlich müsste doch jeder, selbst wenn er noch nicht volljährig ist, irgendwann irgendwo schon mal etwas davon gehört haben, auch von den alten Griechen, also Helena, Hektor, Dardanos und, tausendmal doch bedichtet, der Helikon, wo die Musen hocken, oder der Ilion, von wo, tausendmal doch gemalt, dieser lockige Hütebub in Zeus´Adlerfängen aufstieg zum olmypischen Mundschenk. Nichts! Stets Fehlanzeige!
Aber dann, zwischendurch, doch immer mal wieder ein kleines Aufatmen, sieh da, ein Hoffnungsschimmer am silberhaarigen Horizont, wenn irgendwann bei irgendeinem Jungschen wenigstens so etwas wie Erziehung durchscheint: Ein Tätowierter hält uns die Tür auf, ein Gepiercter bietet uns seinen Platz an, ein Irokese hebt uns den Koffer hinauf ins Gepäcknetz. Ah, denken wir dann, noch ist Polen nicht verloren, der könnte doch noch ganz ordentlich werden, eben wie wir.
Andererseits aber wir sind mit dem Erwachsenwerden auch eigen: Zu früh sollen die Jungen, vor allem die Kinder, auch nicht werden wie wir, ob das nun die Sexualität betrifft oder auch anderes, z.B. das Geldmachen: Eine frühreife, allzu gewievte Geschäftstüchtigkeit stört uns, wir denken: Wer mit sechs an der Straßenecke den Teddy und seinen Goldhamster feilbietet, der verhökert mit sechzehn dann im Internet auch seine Großmutter, raffgierig wie der Papst früher die Kardinalshüte oder der Zar damals sein Alaska. Nein, nein, Kinder sollen, so meinen wir, erst einmal richtig Kind sein; und danach sollen sie das normale Programm durchlaufen – d.h. Einschulung, Konfirmation, Abitur, Verlobung und Hochzeit in Weiß, und alles mit den jeweils dafür vorgesehenen Frisuren und Rocklängen, kurzum unser eigenes Programm, immer hübsch Schritt für Schritt von einer Initiation zur nächsten, treu traditionsfixiert – wie unsere indigenen Vettern im Busch. Doch bevor ich mich jetzt selbst noch dorthin verirre, fahre ich lieber mit den Gedichten fort.
 
Teestubendisput
Nerv und Frequenz
Abverkauf
 
 
Pause
 
 
Heiliger Organismus der Welt (erinnern Sie sich?), das klingt nach einer Natur, die von Göttern durchwaltet ist – ziemlich fremd, für uns, diese Vorstellung, finden Sie nicht? Aber eine heile Natur, oder doch eine als heil idealisierte, die kennen wir ja auch: drei Wochen Berghütte mit Brunnen und Holzfeuer oder dergleichen. Da grüßt von fern immer noch das gute, antike Arkadien, diese Ideallandschaft mit glücklichen Ziegenhütern, die Tityrus oder Menalcas heißen. Dazu gibt es übrigens seit geraumer Zeit auch eine exotische Variante, etwa als Serengeti oder Ngorugoru-Krater, mit glücklichen Rangern und Guides für Zebras, Elefanten und fotografierende Touris.
Daneben aber ist, gerade heute, Natur auch noch etwas sehr Un-fotogenes, schon weil kaum mehr anschaulich, zumindest nicht unmittelbar. Es ist die Natur, welche die Wissenschaft uns präsentiert, z.B. als Urknall oder Doppelhelix. Erst einmal nichts als bloße Tatsachen-Informationen. Und je detaillierter sie werden, desto unzugänglich-abstrakter. Der Urknall etwa mit seiner „Planckzeit“ und „Ersten Singularität“, oder die Doppelhelix mit „Proteinen“, „Enzymen“ und Chimären wie „Adenin“, „ Thymin“, „Cytosin“ und wie sie sonst noch heißen. Und klein klein weiter aufgedröselt stehen dann überhaupt nur noch Buchstaben und Zahlen für irgendwelche Mikro-Wesenheiten, die in Reagenzgläsern und Petrischalen ihr unromantisches Dasein fristen.
Andererseits haben derlei Tatsachen-Informationen, wenn man sich vom nüchternen Gestus der schieren Faktizität nicht vorschnell abfertigen lässt, auch eine durchaus faszinierende Dimension: Oder soll man für ganz normal, nicht anders zu erwarten und selbstverständlich halten, dass alle für das Leben auf diesem Planeten notwendigen Ingredientien ihm von Supernova-Explosionen gesponsert worden sind ? Oder dass wir, wie wir hier sitzen, ein Milliarden-Verein bewusstlos zuckender Zellen sind, deren Arbeit und Programm – inklusive womöglich der Dichtkunst und ihrer Rezeption – sich unserem Willen vollständig entziehen? Und die, wenn wir an ihnen herummanipulieren – ich erinnere nur an bestimmte Experimente mit weißen Mäusen, Drosophila-Fruchtfliegen oder dem Klonschaf Dolly – wahrhaft horribel ausschlagen können?
Und dabei natürlich auch immer der Verdacht: Man selbst, ist man vielleicht auch nichts anderes als so ein dumpfes Bündel Materie, das nach physikalischen und biologischen Regeln ruckt und zuckt – genau denselben wie die gesamte übrige Welt ringsum? Und soll man das als naturhafte Harmonie ansehen oder als empörenden Anschlag auf den freien Willen und die Menschenwürde? Aber ich soll hier ja nicht Philosophie treiben, sondern Gedichte vorlesen, und damit will ich jetzt fortfahren.
 
Arkadische Rhapsodie
Fliegen mit AATT
Quappensprung
 
 
Rotaugenlaubfrösche und Katzenaugennattern – ohne exotische Zutaten hüpfen und kriechen solche Tiere ja auch bei uns herum. Vorausgesetzt sie finden geeignete Biotope. Doch die werden bekanntlich immer seltener. Sie wissen schon: Umweltzerstörung. Ein Problem, das mir zum ersten Mal mit dem Waldsterben begegnete. Der Wald, Grimmscher Märchenwald und Eichendorffs Waldesrauschen, ist ja für die deutsche Seele geradezu existenziell bedeutsam, ein quasi mythischer Raum. So sehr, dass ich z.B. kahle Landschaften abstoßend finde. Und ich erschrecke, wenn ich erfahre, dass der Mensch selbst es war, der sie kahl geschlagen hat. Island zum Beispiel. Dort gab es reichlich Wald, bis die Wikinger ihn zu Bau- und Feuerholz zerhackten. Und auch wenn man dort heute mit Stein und Stahl baut und mit Erdwärme heizt, also Geothermie, empfinde ich dennoch die kahlen Flächen als mythische Wunde – und blicke mit Sorge auf unsere Wälder.
Bekanntlich sind aber nicht nur die gefährdet. Vor allem sind es ja die Regenwälder. So ging vor einigen Jahren in Kalimantan (bzw. Borneo) so viel davon in Rauch auf, dass wochenlang die Luft über ganz Südostasien grau schwer Qualm von war. Natürlich bemüht man sich allenthalben um Wiederaufforstung, und das sogar mit modernsten wissenschaftlichen und technischen Methoden. Doch leider: Brandstifter arbeiten schneller als Förster.
Und wenn der Wald nachwächst, ist das nächste Problem die Wiederansiedelung seiner Tiere. Die Aborgines hatten es da noch leicht: Sie berührten einfach die in den Fels geritzten Tierbilder, und schon wurden die lebendig (und jagdbar). Wir haben es schwerer. Manche Tiere müssen sogar erst einmal von Menschenhand herangezogen werden, ehe man sie schließlich auswildern kann. Dokumentationen zeigt mitunter das Fernsehen. So vor einiger Zeit eine über den Waldrapp, diesen schwärzlichen, ibisartigen Vogel, der in freier Wildbahn bei uns lange schon ausgerottet ist. Man hat also ein paar Tiere hier künstlich aufgezogen und ihnen dann den Weg über die Alpen in die Toskana gezeigt, ihr altangestammtes Winterquartier. Tatsächlich haben im Jahr darauf dann die meisten selbständig den Rückweg gefunden. Wir aber machen uns jetzt schleunigst auf den Rückweg zur Poesie!
 
Isländisch Lied
Alang Alang
Auswildern ultraleicht
 
 
Immer wieder faszinierend, nicht wahr, das Phänomen des Vogelzugs – diese fabelhafte Orientierung im Raum, und dann dieses Zeitprogramm: Naturzeit. In reiner Form erleben wir die fast nur noch im Urlaub: die Sonne, die jeden Tag zur selben Zeit (oder doch fast zur selben) über dem Meer oder hinter einem Berg als Feuerball auf- oder untergeht, ein Hahn, der jeden Morgen zur selben Zeit loslegt, oder auch kleine Fledermausdrachen, die jeden Abend zur selben Zeit auf Beute ausfliegen. In sich konsistente Abläufe, weder zu verlangsamen noch zu beschleunigen. Das hat etwas Erholsames. Denn unsere Zivilisationszeit, gewissermaßen elastisch, wie sie ist, treibt uns ja, zumindest tendentiell, stets zur Beschleunigung an und setzt uns damit ja auch fortgesetzt unter Stress.
Natürlich haben wir zwischendurch auch entspannte Augenblicke. Dann entschließen wir uns zu einer gemächlicheren Gangart. Und manchmal sogar so entspannte, dass wir uns über die Zeit als solche grundsätzlich erheben. Dann sehen wir Zeit vielleicht philosophisch: als bloße Denkkategorie. Oder naturwissenschaftlich: als kosmisch raumrelationiert. Oder mit Buddha und den Mystikern als Schleier der Maya, schieren Augentrug, der den Blick auf das Absolute trübt.
Doch eine solche Sicht ständig durchzuhalten, fällt schwer, vor allem bei außergewöhnlichen Ereignissen, wo die Zeit sich dann doch auf einmal sehr real geltend macht. Dazu gehört besonders der Tod. Ja, angesichts bestimmter Schreckensszenarien empfinden wir es sogar als moralisch fragwürdig, uns mit Betrachtungen über die Unwirklichkeit des Phänomens Zeit zu beruhigen: Auschwitz etwa. Aber auch die Schlachtfelder der Weltkriege, Verdun, Stalingrad oder weniger bekannte wie Woronesch, wo man noch heute namenlose Opfer beider Seiten aus der Erde gräbt und, wie zerstückelt auch immer, zu bestatten versucht. Da spätestens gewinnt die Kategorie Zeit ein Gewicht, das sich mit Philosophie, Naturwissenschaft oder Religion nicht mehr – oder jedenfalls nicht mehr so ganz einfach – leichter machen lässt.
 
Am Morgen, am Abend, am Ziel
Zistrosen
Unter der Sonne von Woronesch
 
 
 
Herzlichen Dank, dass Sie mir so lange und so freundlich zugehört haben!
 
Statt eines allgemeinen Diskussionsangebots, das jetzt vielleicht angebracht wäre, biete ich Ihnen lieber Nachgespräche in gelockerter Formation an, die von einem Glas Wein beflügelt werden.